Ein Held, wie man ihn bis dahin in Kinderbüchern noch nicht angetroffen hatte: Als Max vor genau fünfzig Jahren im Wolfspelz die Kinderbuchbühne betrat, waren Pädagogen schockiert. Wie konnte man einem solch ungezogen, frechen Kerl ein ganzes Kinderbuch widmen?
Da steht ein kleiner Junge, der sich verkleidet hat mit einem Wolfspelz. Er treibt Schabernack, hechtet mit einer Gabel dem Hund hinterher, spielt Monster. Aus Angst, er überborde, sieht sich die Mutter zum Eingreifen genötigt. Doch ihr kommt er frech – ganz in seiner Rolle als Monster. Zur Strafe schickt sie ihn ohne Abendessen ins Bett, eine schon damals beliebte Elternstrafe, längst vor Stärneföifis gleichnamigem Lied.
Beobachten statt mitspielen
Entsprungen ist dieser Max der Phantasie des Autors und Zeichners Maurice Sendak, einem Sohn jüdischer Immigranten in New York. Sendak, 1928 geboren, war ein kränkelndes Kind, das lieber die anderen Kinder beobachtete als selber mitzuspielen. Er hatte kaum Freunde und war vermutlich ebenso in seiner Fantasie zuhause wie der kleine Max.
Die innere Freiheit als Gegenpol zur äusseren Beschränkung, als taugliches Mittel, die auferlegten Grenzen auszuhalten, ja zu überwinden – diese Gabe bringt Sendak in «Wo die wilden Kerle wohnen» genial auf den Punkt. Mit seinem Bilderbuch hat er einen Welthit gelandet: Schätzungsweise sieben Millionen Mal wurde das Buch bisher verkauft.
Der König der Wilden
Das neue an Senkads Buch war, dass Max nach seiner Strafe nicht tränenreich Reue zeigt. Er spielt einfach weiter «Monsterlis», baut sich eine ganze Traumwelt auf. In seinem Zimmer wächst plötzlich ein Urwald, bis «die Wände so weit wie die Welt waren».
Darin begegnet er den wilden Kerlen – Sendak zeichnet sie als Mischung aus verschiedenen Tieren und Fabelwesen. Angst jagen sie Max nicht ein, denn er weiss einen Trick: Er bezwingt sie mit seinen Augen, indem er nicht blinzelt.
Als wildester von allen wird er zum König der Kerle. Sendak bringt damit eine Bubenfantasie auf den Punkt: Einmal der Wildeste sein von allen und bewundert für die eigene Frechheit – auch heutzutage vibriert dieser Tagtraum in den Kinderköpfen ganzer Klassenzimmer.
Wo das Essen am besten schmeckt
Dass die Strafe der Mutter nicht greift, hat bei Erscheinen des Buchs in den Sechzigerjahren für Unmut gesorgt – und Verwirrung. Denn bis anhin hatten Kinderbilderbücher eine erzieherische Botschaft. Dabei gelingt es Maurice Sendak phantastisch, die Erlebniswelt des Jungen plastisch darzustellen. In seiner Traumwelt ist Max zwar ein Held, doch auch er lernt seine Lektion: Wahre Helden sind einsam. Deswegen sehnt er sich dorthin zurück, «wo jemand ihn am allerliebsten hat», und wo auch das Essen am besten schmeckt: Nach Hause.
In diesem Sinne ist Maurice Sendaks Werk auch eine grosse Liebeserklärung an die Mutter. Wer einem Kind ein solch gutes Selbstbewusstsein mitgibt, dass es sich auch in der Fremde unter garstigen Umständen geliebt und behütet fühlt, hat in der Erziehung keineswegs versagt. Im Gegenteil. Dieser Aspekt blieb den aufgeschreckten Lesern der ersten Generation in den Sechzigerjahren wohl verborgen. Die Kinder hingegen verstanden ihn. Und lieben die Geschichte heute noch, quer durch alle Generationen.