André David Winter arbeitet in seinem Beruf als Erwachsenenbildner oft mit alten Menschen zusammen. Und dabei erfährt er viele Geschichten aus ihrem Leben. Sie erzählen zum Beispiel von ihren Ehen, in denen nicht selten einiges auf der Strecke geblieben ist.
Vor diesem Hintergrund ist der Roman «Jasmins Brief» entstanden. Im Mittelpunkt steht Katharina Weiss, eine bald 80-jährige Frau, die auf ihr Leben zurückschaut. Sie weiss, dass ihre Tage gezählt sind und lässt nochmals einzelne Kapitel ihrer Biografie Revue passieren.
Begegnung im Landdienst
Ihren Mann David hatte sie schon als Kind kennengelernt: Der Junge aus gutem Hause verbrachte 1938 auf dem Bauernhof ihrer Eltern die Landdienstwoche. Später, nach dem Krieg, liefen sie sich zufällig wieder über den Weg, wurden ein Paar und heirateten bald.
Aber die Ehe stand von Anfang an nicht unter einem guten Stern: David, mittlerweile Gymnasiallehrer, hochgebildet, wortkarg und sensibel, gab Katharina zu spüren, dass sie nicht die erste Wahl war. Kein Wunder, fühlte sie sich wenig geliebt und akzeptiert.
Ein Kind hätte dieses Defizit vielleicht kompensiert, aber David wollte von Familie nichts wissen. Geredet haben sie über solche existentiellen Themen nie. «Sie hatte einen Fremden geheiratet. Aber anstatt sich aneinander zu gewöhnen, wurden sie einander immer fremder», heisst es im Roman.
Das Unvermögen, Bedürfnisse anzusprechen
Gerade diese Sprachlosigkeit zwischen Mann und Frau habe ihn schon immer beschäftigt, sagt André David Winter. Das sei auch oft ein Thema gewesen in den Begegnungen mit alten Menschen. Vielleicht sei dieses Unvermögen, miteinander über Bedürfnisse, Sehnsüchte und Sexualität zu reden, in der Generation unserer Eltern und Grosseltern noch grösser gewesen als heute.
André David Winter überzeugt, wie er mit sprachlichen Mitteln diesem Schweigen nachspürt. Sparsam setzt er die Worte, lässt vieles zwischen den Zeilen stehen und schafft es, tief in die verwundete Seele dieser Katharina Weiss zu leuchten.
Eine schockierende Entdeckung
Nach dem Tod ihres Mannes räumt sie sein Arbeitszimmer auf und findet in einer Mappe die Belege von Unterhaltszahlungen. Wie muss ihr diese Entdeckung zugesetzt haben: Er verweigert seiner Frau, Mutter zu werden – und weiss gleichzeitig, dass ausserhalb der Familie ein eigener Sohn gross wird.
Aber Katharina hadert nicht, vergällt sich ihre letzten vier Jahre nicht mit Zorn und Verbitterung. Sie wagt den Sprung nach vorn: Katharina knüpft den Kontakt zu diesem Stiefsohn. So bekommt sie auch gleich noch eine Enkelin dazu und vergoldet sich ihren Lebensabend. Endlich darf sie ihre grosse Sehnsucht ausleben: darf Mutter und Grossmutter sein.
Dass diese glückliche Wendung nicht in Sentimentalität und Kitsch abdriftet, sondern bei den Leserinnen und Lesern Respekt vor einer mutigen Frau abverlangt, ist das Verdienst von André David Winter. Ihm ist mit «Jasmins Brief» ein glaubwürdiger und tiefsinniger Roman gelungen, der sich wohltuend von anderen Büchern zu dieser Thematik abhebt – und erst noch mit einem Happy End aufhört.