«Und dann» spielt kurz nach der Wende, erzählt aus der Perspektive eines Kindergartenkindes. Ich bin Jahrgang 1986, war damals also fünf, sechs Jahre alt. «Und dann» spielt in einer ostdeutschen Plattenbausiedlung, ich bin in Leipzig-Paunsdorf aufgewachsen – man ahnt es schon – in einem Plattenbau. Und dann sendet SRF das Hörspiel «Und dann» auch noch am 5. Februar, meinem Geburtstag – Zufall?
Leben und Erleben
In «Und dann» erzähle ich nicht aus meinem Leben: Ich habe meine Mutter nicht verloren. Aber: In «Und dann» erzähle ich von Erlebtem, unter anderem. Im Text arbeite ich mit Bildern, die beschworen, beschrieben, gebaut werden: Vier Plattenbauten, die einen Hof umschliessen, auf dem drei Findlinge liegen. Ein CB-Funkgerät, vor dem der Vater sitzt. Eine Militärparade auf einer langen Strasse.
Das Erlebte, das sind also Bilder, die sich mir eingebrannt haben. Weil sie für mein Leben prägend waren: Wie der Hof vor dem Haus, wie das Amateurfunken, das mein Vater tatsächlich betrieben hat.
Geträumtes und Gelesenes
Auch von der Militärparade habe ich ein starkes Bild, von Panzern und Soldaten – und uns am Rand der Strasse. Eine Erinnerung, die keine Erinnerung ist: Eine solche Parade hat es 1989 in Leipzig nicht gegeben,wie ich erst nach dem Schreiben von «Und dann» festgestellt habe; dabei war ich doch dabei. Hier hat sich wohl ein Traum, vielleicht beeinflusst von Fernsehbildern, zur Erinnerung verfestigt.
Erlebtes hat sich auch anders eingeschlichen: als Erlesenes. Hier geht es mir wie fast allen Autoren. Selbst wenn man sich nicht bewusst von einem anderen Text inspirieren lässt, übernimmt man doch Erzählmuster, Geschichten, Konstellationen. Bei «Und dann» wäre das etwa «Das grosse Heft» von Agota Kristof. Dort erzählt ein Kind; weil es auf sich allein gestellt ist, verdoppelt es sich, erfindet sich einen Zwilling als Gegenüber.
Auch in «Und dann» ist nicht ganz klar, ob der Bruder des Ich-Erzählers existiert; wo der Vater aber lange sprachlos bleibt, gibt der Bruder eine Möglichkeit, zu sprechen. Auf diese Parallele bin ich erst nach Fertigstellung des Textes aufmerksam gemacht worden. Bei der Lektüre vom «Grossen Heft» habe ich das Wir der Brüder wohl so stark erlebt,dass es sich noch Jahre später aufgedrängt hat. Ganz ähnlich beeinflusst hat mich übrigens auch der japanische Zeichentrickfilm «Mein Nachbar Totoro».
Die Form
Die Arbeit mit Erlebtem schlägt sich in der Form nieder. In «Und dann» erinnert sich der Ich-Erzähler. Er beschwört Bilder herauf, um sie dann aus einer kindlichen Perspektive heraus zu deuten: Da wird aus einem Funkgerät ein Würfelmittausendstimmendrinnen.
Schliesslich strukturiert das titelgebende «Und dann» auch den Text. Weil Kinder beim Erzählen einzelne Szenen oft mit einem «Und dann» einleiten und verbinden. Weil ein «Und dann» die Möglichkeit gibt, auch Unverstandenes, Unverbundenes, Unzusammenhängendes zu erzählen.
Und die Kunst?
Wie wird aus dem Erlebten nun aber Literatur? Neben der formalen und sprachlichen Gestaltung gilt es zuerst einmal, das poetische Potenzial der Bilder zu erkennen. Die eigentliche künstlerische Arbeit besteht dann darin, ein System zu erschaffen. Ein System, in dem die einzelnen Motive sprachlich und energetisch in Beziehung zueinander treten – Sinn ergeben, Klang ergeben: drei Verlierlinge, vier Plattenbauten, ein Würfelmittausendstimmendrinnen. Wenn dieses System lebendig wird, ein Organismus wird, dann erzeugt es auch ganz Neues: Wie wenn der Vater alte Familienfilme auf die Hauswand gegenüber projiziert, um die Mutter wieder lebendig zu machen. Das habe ich nicht erlebt, sondern geschrieben.
Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Das ist nicht nur Zufall – sondern literarische Methode. Bis auf eins vielleicht: Dass das Hörspiel an meinem Geburtstag gesendet wird, damit habe ich wirklich gar nichts zu tun.