Jesmyn Ward wuchs in einer kleinen, ländlichen Gemeinde in Mississippi auf. Die 36-jährige schwarze Autorin wurde Schriftstellerin, weil sie in ihrem Erstlingsroman die Erinnerung an ihren toten Bruder lebendig halten wollte. Dieser Bruder war von einem betrunkenen Automobilisten getötet worden. «Vor dem Sturm» ist Wards zweiter Roman. Die Künstlerin erhielt dafür den prestigeträchtigen National Book Award der USA.
Der Roman ist ungemein kraftvoll, weil Ward private Leidenschaften mit der unausweichlichen Zerstörungskraft eines herannahenden Hurrikans verbindet. Ward setzt dieser Zeitbombe die Macht eine hoffnungsvollen Erzählung entgegen.
Rückhalt in der Mythologie
Die 15-jährige Erzählerin Esch ist arm, schwanger und ziemlich unglücklich. Die Mutter der fünfköpfigen Familie im Südosten der USA ist gestorben. Geld ist Mangelware. Der Vater trinkt und das Essen ist knapp in der selbst zusammengezimmerten Hütte am Waldrand, inmitten von Autowracks und herumstreunenden Hühnern.
Die Brüder Skeetah und Randall gehen ihre eigenen Wege. Skeetah hält eine Pittbullterrierhündin. Randall will Basketballspieler werden. Wenn sich junge Burschen an Esch ranmachen, und wenn die Teenagerin sich kompromisslos für Nesthäkchen Junior einsetzt, dann ruft sie jeweils Medea an, Inbegriff einer starken, furchtlosen Frau aus der antiken Mythologie.
Eschs Mutter hat bei ihrer Tochter das Interesse für diese Identifikationsfigur geweckt. Die zauberkundige Königstochter der Sage führt Esch durch die Unbill des Überlebenskampfs. Umso mehr, als die Sturmwarnung eintrifft am Mississippi-Delta, wo das Unheil seinen absehbaren Lauf nimmt.
Der Hurrikan zerschmettert alles
Die Familie hat keine Möglichkeit zu fliehen. Dies ist den besser Situierten vorbehalten. Die Kinder dichten mit schlechtem Material behelfsmässig die Fenster ab und sie versuchen die Hütte, die nicht zur Arche Noah taugt, mit zusammengesuchtem Altholz zu stabilisieren. Schon werden sie fixiert vom nahenden Auge des Hurrikans. Die Sintflut fegt alles weg.
Die Familie wird wie in einer Riesenwaschmaschine vom mit unheimlicher Wucht tobenden Wirbelsturm getroffen. Am Ende dieses Romans steht ein amerikanisches Wunder: Alle Familienmitglieder haben überlebt. Das heisst aber: zurück auf Feld eins. Das Leben beginnt wieder bei Null.
Hundekämpfe als animalischer Totentanz
Ward relativiert die teilweise Rosafärbung dieser Überlebenssaga. Das Heraufziehen des Wirbelsturms wird nämlich von blutrünstigen Hundekämpfen orchestriert. Mit bis an die Schmerzgrenze gehender Detailtreue erzählt Esch, was die Jungen ihrer Clique in einem animalischen Totentanz inszenieren. An vorderster Front Bruder Skeetah mit seinem Stolz, der trächtigen Bullterrierhündin China.
Die Tiere verbeissen sich brutal ineinander. Es fliesst Blut und man weiss am Ende gar nicht, welcher Kampfhund wie überlebt hat. Es fliesst aber auch Geld bei diesem verbotenen Ritual. Insbesondere Skeetah ist auf eine Siegprämie aus, um seiner Familie helfen zu könnnen.
So reizt Ward das fantastisch Bizarre ihres Romans voll aus. Das Entscheidende ist: Sorgen und Schmerz adeln hier niemanden. Sie existieren allein, um ausgehalten zu werden. Und, ach ja, nach dem Sturm ist vor dem Sturm.