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Literatur Warum fragen

In Ortheils «Das Kind, das nicht fragte» taucht ein wunderlicher Ich-Erzähler in einer italienischen Kleinstadt auf, um ethnologische Forschungen zu betreiben. Das tut er mit einer scheinbar banalen Methode: Er befragt Leute. Eine faszinierende Herangehensweise, die in einem Kindheitstrauma wurzelt.

Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Reise in eine Stadt. Ihr Interesse hängt nicht an den touristischen Highlights und Museen. Sie wollen die Bewohner kennenlernen, ihre Traditionen, ihre Kämpfe, ihre Träume. Sie beobachten, und bald fangen Sie an zu fragen. Aus den Antworten ergeben sich neue Fragen und neue Gesprächspartner, die Sie wieder zum Nächsten führen. Und irgendwo zwischen der hundertsten und der tausendsten Frage erlangen Sie ein Gefühl für diese Stadt, ihren Sound, ihre Atmosphäre. Aber keine Antwort.

Ein Reisender in einer sizialinischen Kleimstadt

Hanns-Josef Ortheil sitzt mit einem Glas Wein und Notitzbuch an einem Tisch und schaut aus dem Fenster.
Legende: Ortheils Buch «Das Kind, das nicht fragte» ist voll von literarischen und kulinarischen Leckerbissen. Lotta Ortheil / Luchterhand

Fragend durch die Welt zu gehen verschafft einen Zugang zur Welt, wie zur eigenen Identität und ist darüber hinaus ein ethnologisches Vorgehen, sagt der Schriftsteller  Hanns-Josef Ortheil in seinem neusten Roman «Das Kind, das nicht fragte». Fragen ist die Methode, mit der der Ich-Erzähler des Romans, ein 40jähriger eigentümlicher Forscher namens Benjamin Merz, in der sizilianischen Kleinstadt eine ethnologische Studie betreibt: Er beginnt, die Leute, die er scheinbar zufällig trifft, auszufragen.

So notiert er zu Beginn seiner Städtereise: «Das Fragen und Antworten ist in guten Dialogen eine Lust und ein Fest, doch man muss von dieser Kunst etwas verstehen, um sie als Lust und Fest zu erleben. Ich glaube davon viel zu verstehen, ich bin eine Art Fachmann für diese Kunst, und es ist mir gelungen, daraus sogar meinen Beruf zu machen.»

Die Magie der Fragen

Buchhinweis

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Hanns-Josef Ortheil: «Das Kind, das nicht fragte», Luchterhand, 2012.

Es steckt eine Magie in der Art, wie der Ethnologe Benjamin Merz seine Fragen stellt. Sie kommen gut an, vor allem bei den Frauen des Städtchens. Die Gefragten fühlen sich geehrt und inspiriert, dem fremden Ethnologen ihr Innerstes anzuvertrauen. Und sie werden neugierig auf den Fragesteller.

Hinter dem Geheimnis seiner Fragekunst steckt ein Kindheitsdrama. Benjamin Merz wurde als Kind von seinen vier übermächtigen älteren Brüdern zum Verstummen gebracht. Als Kind wurde er selten etwas gefragt und traute sich auch nicht, zu fragen. Das liess ihn verkümmern und verdorren. Bis ihn anlässlich seiner ersten Beichte der Priester fragte: «Wie heisst Du?»  

Fragen an Gott

Ausgerechnet ein Priester löste seine Zunge. Er ermunterte den Jungen, seine durch langes Schweigen aufgestauten Fragen an Gott zu stellen. Wenn er ein wenig warte, könne er vielleicht eine Antwort hören. Mit dem Priester lernte Benjamin, zu fragen, von sich selber zu erzählen und ein Gespräch zu führen.

Sieben Jahre lang kein einziges Wort

Streitfragen der Religion

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Auf religiöse Fragen gibt es selten abschliessende Antworten. Diskutieren soll man sie nichtsdestotrotz, und das tut die «Sternstunde Religion» in ihrer Reihe «Streitfragen».

Die Fragen dieses Mal, die Sie als Zuschauende selber ausgewählt haben: «Macht Religion die Menschen moralisch besser?» und «Sollen Kinder religiös erzogen werden?».

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Auch dem Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil ist die Sprache nicht in den Schoss gefallen. Auch er war das jüngste Kind, auch er hatte vier Brüder, doch die waren alle schon tot. Seine Mutter hatte ob dem Verlust ihrer Söhne die Sprache verloren. Und so wuchs Hanns-Josef Ortheil stumm neben der stummen Mutter auf: Er sprach die ersten sieben Jahre seines Lebens kein Wort. Die Erfahrung, wie er sich die Sprache im Verlauf der Kindheit erkämpfte und schliesslich Schriftsteller wurde, hat ihn als Autor geprägt und fliesst in seine Romane ein, am stärksten in «Erfindung des Lebens» (2009).

Reise in die Kindheit

Aufgebrochen ist die Hauptfigur Benjamin Merz zu einer Studienreise in die fremde Stadt, sie führt ihn aber auch zurück zu ihm als «Kind, das nicht fragte», das wiederum verwandt ist mit dem Kind, das der Autor einmal war.

Und für den Leser ist die Ausgangslage mitsamt der auf den ersten Blick banal anmutenden Fragehaltung ein ansteckendes Experiment für eine ethnologisch-fragenden Städtereise.

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