Manche Dinge will man nicht so genau wissen. Etwa wenn die Hamburger Polizeipsychologin Claudia Brockmann detailliert den Missbrauch und die Ermordung eines sechsjährigen Mädchens durch einen Teenager aus der Nachbarschaft rekonstruiert. Auf leeren Magen lesen kann man das nicht, und als Lektüre vor dem Einschlafen eignet es sich ebensowenig.
Claudia Brockmann, beim Schreiben unterstützt vom einstigen «Stern»-Reporter Bernd Volland, erzählt ihre Fälle nicht reisserisch, sondern als Teil normaler Polizeiarbeit. Die Ermittlerin arbeitet sich langsam und mühselig durch Fakten, Beweise und Indizien.
Ein Gespür für die Lüge
Brockmann will verstehen, warum jemand wie gehandelt hat. Oder sie versucht während einer Ermittlung vorauszusehen, wie ein noch unbekannter Täter handeln könnte – damit ihn die Polizei verhaften kann, bevor er noch mehr Schaden anrichtet.
Eine überraschende Erkenntnis bei der Lektüre: Wie die Beamten beim Verhör den Beschuldigten manchmal das Blaue vom Himmel herunter lügen lassen. Wer lügt, versucht den wahren Handlungsablauf, die wahre Tatmotivation zu verbergen. Und eine erfahrene Kriminalpsychologin hat ein Gespür dafür, welche falschen Spuren jemand im Verhör legt.
Der Erpresser «Dagobert»
Leichter als die Kapitel über grausame Fälle liest sich Brockmanns Bericht über den Erpresser «Dagobert». Weil es nicht um Bluttaten ging, sondern um einen Wettstreit der Intelligenz zwischen Erpresser und Polizei. «Dagobert» hatte 1988 bei dem Berliner Kaufhaus des Westens (KaDeWe) eine halbe Million Mark erpresst.
Als ihm das Geld ausging, versuchte er es bei der Kaufhauskette Karstadt erneut. 1992 und 93 zündete er in dessen Filialen fünf Bomben und einen Brandsatz. Immer wieder setzte er Orte und Termine für die Lösegeld-Übergabe an. Dreissigmal platzte die Übergabe, dreissigmal, so der öffentliche Tenor damals, habe «Dagobert» die Polizei genarrt. Offenbar doch nicht ganz, denn der Erpresser wurde im April 1994 verhaftet.
Ermittlung in kleinen Schritten
Brockmann zeigt auf, wie die Polizei mit grossem technischem und personellem Aufwand dem Unbekannten auf die Spur kommt – in kleinen Schritten und unter Rückschlägen. Wie sie Indizien sammelt und interpretiert, wie sie Vertrauen aufbauen und ihn am Telefon in Gespräche verwickeln will – um durch Fangschaltungen seinen Aufenthaltsort zu ermitteln und um zu verstehen wie er denkt. Und um ihm aufgrund dieser Erkenntnisse seine Gefährlichkeit zu nehmen.Teilweise gelang das: Dagoberts Bombenanschläge forderten lediglich zwei Verletzte, obwohl manche seiner Bomben während der Ladenöffnungszeiten in Kaufhäusern explodierten.
Claudia Brockmanns Buch «Warum Menschen töten – Eine Polizeipsychologin ermittelt» liest sich wie ein Kriminalroman. Bloss kann man sich bei der Lektüre nicht damit beruhigen, es sei alles Fiktion. Die Abgründe der Realität als Unterhaltungsstoff, das ist der Nervenkitzel am Krimi-Genre «True crime», das auf realen Fällen beruht. Eine durchaus zwiespältige Erfahrung.