1841 schrieb Gottfried Keller: «Wer nicht klar für die Unabhängigkeit und Freiheit der Schweiz eintritt, ist kein richtiger Schweizer.» Christoph Blocher interpretierte diese Worte vor einigen Jahren so, dass Keller heute SVP wählen würde. Teilen Sie diese Meinung?
Adolf Muschg: Nein, mit Bestimmtheit nicht. 1841 war die Situation völlig anders. Die Schweiz war ein offenes Land für Revolutionäre, für Flüchtlinge von allen Seiten. Die Unabhängigkeit der Schweiz bedeutete die Unabhängigkeit von den Grossmächten, vom metternichschen System – also von der Zensur, dem Gottesgnadentum und so weiter. Die Stossrichtung ist vollkommen anders als die von Blocher. Sie ähnelt sich nur oberflächlich. Im Grunde war die Schweiz das internationale, das offene Land. Die anderen Länder waren verschlossen.
Was weiss man über Kellers politische Gesinnung?
Er fing als politischer Feuerbrand, als 48er, an. Heute würde man an die Studentenbewegung von 1968 denken. Der junge, brotlose Künstler war ein Radikaler im alten Sinn. Er war damals schlicht ein Linker. Er hat das System in Zürich angegriffen. Seinen Schulkameraden Escher, der ihm das Studium in Berlin bezahlt hat, hat er als Baumwollkönig, als Ausbeuter bezeichnet. Escher reagierte souverän und klug und liess Gottfried Keller zum Staatsschreiber befördern. Keller war damit für die Dauer seines Amtes gewissermassen neutralisiert. Er hat aber in den 1880er-Jahren das Amt niedergelegt, weil er wieder schreiben wollte.
In Volksabstimmungen hat die Schweiz in den letzten Jahren eine nationalkonservative Richtung eingeschlagen. Sie hat den Bau von Minaretten verboten und die Einwanderung begrenzt. Was würde Gottfried Keller zum politischen Zustand der Schweiz sagen?
Eine mögliche Antwort darauf findet man in «Martin Salander», in seinem letzten, sehr dunklen Buch, in dem er über die Schweiz den Stab gebrochen hat. Es ist das vernichtendste Buch über die Schweiz, das ich kenne. «Martin Salander» dokumentiert, was passiert, wenn das grosse Geld, die Spekulation und das Privatinteresse die Öffentlichkeit in Geiselhaft nehmen. Also etwa das, was bei uns passiert.
Die Öffentlichkeit hat allerdings heute eine völlig andere Struktur als damals. Es ist heute genauso möglich, eine Minarett-Initiative zu lancieren, wie es möglich ist, eine Whiskey-Marke oder ein Auto zu verkaufen. Man muss es nur richtig machen. Es ist eine PR-Sache. Das kannte Keller noch nicht. Aber die Mentalität dahinter war für ihn das Ende der Schweiz.
Sie selber sind in der Rekrutenschule auf Gottfried Keller gestossen und haben gesagt, dass Sie ohne ihn die RS nicht überlebt hätten. Warum?
Ich habe einen gebraucht, der zugleich Schweizer und dienstbereit ist und seine Sicht nicht bestechen lässt. Es ist kein absurder Gegensatz, in einem offenen Land zu leben und in einem Land, das Heimat ist. Und die grosse Dichtung – Keller war ein grosser Dichter – hilft einem, nicht in falschen Gegensätzen zu denken.
Sendung: Kultur Kompakt, Radio SRF 2 Kultur, 15.07.2015, 08:20 Uhr.