In den Schlagzeilen heissen sie «Teenager-Islamistinnen», «Wiener IS-Kriegerinnen» oder «Postergirls des Dschihad». Samra und Sabina, zwei österreichische Teenager, ziehen im Frühling 2014 in den syrischen Krieg und schliessen sich dem IS an. Medien stürzen sich auf die Story, verstörende Details und Fotos tauchen auf Facebook auf, dennoch bleibt viel im Dunkeln.
«Ist eines der Dschihad-Mädchen tot?», fragt ein Medium. Ein anderes schreibt: Ein österreichischer Verfassungsschützer halte «jede Meldung für die beiden Mädchen für gefährlich» (sic!). Oder dies: «IS-Kämpfer geheiratet: Jetzt spricht ‹Dschihad-Mädchen› Sabina (15)». Soweit die mediale Realität, die sich in Spekulationen verliert: Sind die Teenager inzwischen verheiratet? Schwanger? Ist die eine sogar tot?
«Flug gebucht, Countdown läuft.»
Die mediale Faktenlage ist dünn, also spinnt die Literatur die Geschichte von Samra und Sabina weiter. Fiktiv, in einem Blog. Das tönt so: «Männer, die für etwas kämpfen, mit aller Entschiedenheit. Ich fand das sexy. Niemand hier konnte da mithalten. Hier hat niemand für irgendetwas gekämpft.» Oder so: «Flug gebucht, Countdown läuft, kein Zurück mehr. Inschallalalalalala!!»
Dieses Schreib-Experiment «Zwei Mädchen im Krieg» läuft momentan auf Hundertvierzehn.de , dem Blog des S.-Fischer-Verlags. Neun junge Autoren sind dem Aufruf von Schriftsteller Thomas von Steinaecker gefolgt und setzen sich völlig frei mit der Vorlage auseinander. «Was kann heute der gesellschaftspolitische Beitrag eines Schriftstellers sein?», so die Frage. Der Ausgang ist offen, ebenso die literarische Form und die Erzähl-Perspektive.
Der Verstand kommt an die Grenzen
Thomas von Steinaecker selbst hatte lange eine «Aversion gegen jede Art von gesellschaftspolitischen Statements in der Kunst», schreibt er in einem Essay . Heute ist er anderer Meinung – und fragt sich, woher die Angst vor der gesellschaftspolitischen Macht von Kunst rührt? Wie kann und soll also ein Schriftstellers reagieren?
Das Experiment läuft in der dritten Wochen. Das Thema scheint die Autoren nicht zu hemmen, im Gegenteil, der Textfluss ist rege.
Die Hamburgerin Lucy Fricke etwa schrieb aus der Perspektive einer der beiden Mädchen. Ein paar Jahre später, in einem Gefängnis in Österreich. Jan Brandt («Gegen die Welt»), der bekannteste unter den Schreibenden, begann mit der Frage: «Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?»
Schreiben, kommentieren, kritisieren
Sarah Stricker, eine deutsche Autorin, die in Tel Aviv lebt, protokollierte eine arg überspitzte Nachrichtensendung – eine amüsante Mediensatire. Und Fridolin Schleys Beitrag ist eine Interpol-Akte: E-Mails, Flugbuchungen, Facebook-Posts und eine To-do-Liste vor der Abreise.
Der Schreibprozess ist öffentlich und transparent. In einer separaten Spalte werfen die Autoren Fragen ein, kommentieren und kritisieren sich gegenseitig. Einmal schreibt Sarah Stricker: «Ich habe ein wenig den Eindruck, dass wir uns in unserer netten Kommentarspalte immer mehr mit den Produktionsbedingungen des Schreibens beschäftigen – und immer weniger mit dem Thema.»
User können nicht mitdiskutieren, ohnehin kann das Ganze für Nichtliteraten schnell einmal etwas schwurblig tönen. Und es braucht zuweilen Ausdauer, durch die wachsende Textflut zu scrollen. Doch wo kann man Schriftstellern so unverfälscht über die Schultern schauen? Und man darf nicht vergessen: «Zwei Mädchen im Krieg» ist ein Experiment. Ein mutiges.