«Im Winter 1941/1942 legte sich die Bedrohung wie eine Schlinge um meinen Hals und zog sich immer weiter zu. Ich hatte Angst. Genauer gesagt: Die Angst hatte mich. Ich wollte mich retten, aber ich wusste nicht, wie.» Mit eindringlichen Worten schildert Marie Jalowicz Simon in ihrem Erinnerungsbuch mit dem Titel «Untergetaucht», wie sie als junge Jüdin in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus über Jahre einen Kampf ums Überleben focht.
Allein in einer feindlichen Welt
Marie Jalowicz wurde 1922 geboren und wuchs in einer jüdischen Familie in Berlin auf. Ihre Mutter starb 1938, ihr Vater drei Jahre später, ein Anwalt, der nach Hitlers Machtergreifung nicht mehr praktizieren durfte. Die verarmte 19-jährige Marie war fortan völlig auf sich selbst gestellt.
Der nationalsozialistische Staat zog die junge Frau zur Zwangsarbeit heran. Durch eine List gelang es ihr, sich der entwürdigenden Behandlung zu entziehen. In der Folge erlebte sie, wie die Nazis die Jüdinnen und Juden in ihrem Umfeld deportierten. Für Marie war klar, dass sie niemals freiwillig mitgehen würde. «Ich wollte leben», schreibt sie.
Die Flucht in den Untergrund
Am Morgen des 22. Juni 1942 tauchte die Gestapo in ihrer damaligen Bleibe in der Reichshauptstadt auf. «Machen Sie sich fertig. Wir wollen Sie verhören. Es dauert nicht sehr lange», behauptete der Beamte. Marie Jalowicz durchschaute das böse Spiel. Durch ein Husarenstück gelang ihr die Flucht – und sie tauchte unter.
Fortan musste sie sich Verstecke suchen, Menschen gewinnen, die sie bei sich zu Hause duldeten und versteckten. Nirgends konnte sie lange bleiben. Ihr Leben glich einer Odyssee – von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel. Einmal versuchte sie durch eine Scheinehe mit einem in Berlin arbeitenden Chinesen zu entkommen. Dieser Plan scheiterte ebenso wie derjenige, per Bahn mit falschen Papieren über Bulgarien und die Türkei nach Palästina zu gelangen. Zurück in Berlin fand sie erst bei Artisten und dann bei einem holländischen Gastarbeiter Unterschlupf.
Am 22. April 1945 befreiten die sowjetischen Streitkräfte den Ort ihres damaligen Verstecks. Marie Jalowicz Simon erlebte diesen Moment wie in Trance: «Ich war frei, der Krieg war aus, die Rote Armee hatte gesiegt. Gern hätte ich jetzt vor Freude und Erleichterung geweint. Aber nichts rührte sich in mir.»
Die Taktik des Überlebens
Die Stärke des Berichts ist die schonungslose Offenheit, mit der Marie Jalowicz Simon erzählt: So berichtet sie unter anderem auch, wie sie wiederholt sexuelle Übergriffe über sich ergehen lassen musste, um nicht verraten zu werden. Und sie schildert offen ihre gelegentlich ambivalenten Gefühle Menschen gegenüber, die ihr zwar halfen, im Gegenzug jedoch bisweilen eine für sie unzumutbare Dankbarkeit forderten.
Der Überlebenskampf im Untergrund lehrte die junge Frau, Menschen, denen sie begegnete, in Windeseile als «Freunde» oder «Feinde» zu kategorisieren. Zudem entwickelte sie Verhaltensmuster, die ihr bis anhin völlig fremd gewesen waren: Sie bezirzte Menschen, betörte sie, beeindruckte sie durch gespielte Arroganz, gab sich untertänig und übertölpelte andere – so wie es die Situation gerade erforderte.
Mahnmal für eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte
Marie Jalowicz Simon sprach ihre Lebenserinnerungen kurz vor ihrem Tod 1998 auf Tonband. Auf dieser Grundlage verfasste ihr Sohn, der Historiker Simon Hermann, zusammen mit der Autorin Irene Stratenwerth, den nun in Buchform erschienenen schriftlichen Bericht. Ein zugleich erhellendes wie auch beklemmendes Mahnmal für eines der dunkelsten Kapitel der neueren Geschichte.