Nach 18 Jahren Recherche- und Schreibarbeit ist jetzt die letzte von 2000 Seiten gedruckt. Schon die ersten zwei Bände des deutschen Literaturwissenschaftlers Reiner Stach hatten Kritik und Leser begeistert. Auch jetzt ist der Jubel einhellig: Der dritte und letzte Band «Die frühen Jahre», der sich Kindheit und Jugend Kafkas zuwendet, ist eine Parforceleistung.
90 Jahre nach dem Tod Franz Kafkas bleiben seine Werke – Erzählungen wie «Die Verwandlung», «In der Strafkolonie» oder «Das Urteil» und Roman-Fragmente wie «Der Process», «Das Schloss» – so lebendig und heutig wie in vielem rätselhaft. Nach abertausenden oft genug bloss spekulativen Kafka-Publikationen liegt mit Stachs Arbeit endlich eine mustergültige Biografie vor. Sie ist in der Sache unüberbietbar vollständig und genau, dazu brillant geschrieben – was gerade bei Kafka, dem grossartigen Stilisten, nicht unerheblich ist.
So muss es gewesen sein
Reiner Stach hat alles, wirklich alles, was auch an entlegensten und unerwarteten Orten an Dokumenten zu finden und an Fakten erschliessbar war, recherchiert und in seine Darstellung einfliessen lassen. Das Zauberwort für sein Vorgehen lautet Empathie: Seine «biographie romanesque» erlaubt den Lesenden, tiefe und vielschichtige Gefühle zu entwickeln für das gesamte Umfeld des Autors, die Zeitumstände, die familiären und gesellschaftlichen Verwerfungen, sodass Stachs Schilderung aus der Fülle der Mosaiksteine heraus Evidenz erzeugt: So dürfte, so müsste es gewesen sein, Franz Kafka zu sein.
Dabei bleibt der Biograf ungeachtet seiner immensen Detailkenntnisse respektvoll vor den Lücken. Immer wieder lesen wir: «Das wissen wir nicht», «Darüber ist nichts bekannt». Freihändige Spekulation und ultimative Deutungshoheit liegen ihm fern. Was ihn umtreibt, ist die Frage: Wie ist dieses singuläre, unausschöpfbare literarische Werk entstanden?
Phänomenal trotz schwieriger Quellenlage
«Es ist schlechterdings unvorstellbar», davon ist Stach überzeugt, «dass ein erfahrener Leser mit entwickeltem Rezeptionsvermögen vor Kafka niemals die Erfahrung des Genialen macht.» Dem unglaublichen Sog dieser Texte entzieht sich niemand, ihr einzigartiges sprachliches Niveau trotzt der Zeit.
Höchst eindrücklich und spannend wie ein Roman zu lesen, was Reiner Stach jetzt zu den ersten 28 Lebensjahren Kafkas zusammengetragen hat. Seine Publikation hatte er ja vor 12 Jahren mit dem zweiten Teil, «Die Jahre der Entscheidung», begonnen – zum einen, weil zwischen 1912 und 1917 Kafkas irreversibler Weg als Autor begann, zum andern, weil Stach für die schlecht dokumentierten Jugendjahre bis zuletzt auf zusätzliche Quellen hoffte. Denn Kafka selbst hatte seine frühen Tagebücher verbrannt und der aufschlussreiche Nachlass seines Freundes Max Brod ist wegen Erbstreitigkeiten stets noch in Jerusalem unter Verschluss.
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Phänomenal dennoch, welch nuanciertes zeit- und mentalitätsgeschichtliches Panorama des Fin de Siècle in Prag Stach entfaltet. Er zeigt etwa, wie der kleine Franz in früher Kindheit mit derbem Antisemitismus und offener Gewalt konfrontiert war. Und weist überzeugend nach, wie das Kind von den als Geschäftsleuten hart geforderten Eltern immer wieder allein gelassen, permanent mit Verlusten und Abschieden konfrontiert war. Er kannte kein «Urvertrauen», und entwickelte, wie Stach meint, eine «Verlassenheitsneurose», welche Kafkas Bindungsunfähigkeit und das stete Gefühl des Ungenügens konstitutiv beeinflusste.
Die existentielle Notwendigkeit zu schreiben
Gleichzeitig räumt Stach aber auch mit der Mär vom Weltschmerzler mit traurigen Augen radikal auf: Kafka war ein durchaus lebenslustiger, erfahrungshungriger, Vergnügungen und Abenteuern zugewandter, gut aussehender Mann und im Beruf ein erfolgreicher Jurist. Wenn er – im Alltag grossen Zwängen ausgesetzt – zuletzt seine Gesundheit ruinierte, dann wohl wegen der für ihn existentiellen Notwendigkeit zu schreiben: «ich (…) bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein», schreibt er 1913 in sein Tagebuch.
Die tiefe Gespaltenheit zwischen bürgerlicher und Schreib-Existenz hat sich – neben den transformierten Zeiterfahrungen von Krieg, von Auflösung gesellschaftlicher Strukturen und von der Fragilität menschlicher Beziehungen in sein Werk eingeschrieben. Dank Reiner Stachs Jahrhundertbiografie lesen wir den «Jahrtausendautor», wie ihn Stach nennt, mit neuen Augen.