Es scheint einen grossen Mythos um Alfonsina Storni zu geben. Woher rührt dieser?
Hildegard Elisabeth Keller: Wenn jemand in der lateinamerikanischen Welt «Alfonsina» sagt, muss man nicht einmal «Storni» sagen. Die Leute kennen sie sofort. Das könnte man von «Max» oder «Friedrich» nicht behaupten. Man muss «Frisch» oder «Dürrenmatt» hinzufügen – obwohl es grosse Namen sind. Der Mythos reduziert ein Leben und Werk auf den Namen «Alfonsina» – also den Namen aus dem Lied «Alfonsina y el Mar», das von Stornis Selbstmord berichtet. Die berühmteste Interpretin ist Mercedes Sosa, das Lied ist weltbekannt. Wenn ich aber den Namen Alfonsina Storni in Europa nenne, ist die Reaktion immer dieselbe: «Alfonsina Wer? Nie gehört!» Wirkliche Kenntnis ihres grossen schriftstellerischen Werks haben nur Experten.
Der Selbstmord und die sogenannte Tragik von Stornis Leben stehen also oft im Vordergrund. Was geht bei dieser Sichtweise verloren?
Fast alles. Ich möchte Alfonsina so betrachten, wie sie sich selbst gesehen hat und das betonen, was ihr an ihr selbst am Herzen lag: Alfonsina war Künstlerin! Eine unerhört kreative Frau. Einerseits mit der geschriebenen Sprache als Journalistin und Schriftstellerin. Andererseits mit dem gesprochenen Wort als Lehrerin sowie als Rezitatorin und Referentin. Sie war eine Frau der Bühne. Es ging ihr um die Kunst, das gesprochene Wort zur Entfaltung zu bringen – und mit dem Wort den Menschen selbst. Ich besitze Originalaufnahmen aus dem Jahr 1938, in denen sie eigene Gedichte rezitiert. Das ist sehr eindrücklich. Sie steigt sozusagen in ihr Gedicht hinein und erfüllt es von innen heraus mit Leben.
Was ist das Spezielle an Stornis Sprache?
Sie hat eine ganz eigene, oft provokante Wortwahl. Manchmal verwendet sie Wörter, die in einem bestimmten Kontext nicht üblich sind. Zum Beispiel beschreibt sie einmal ihre wachsende Berühmtheit mit einem unappetitlichen Vergleich, ihr Ruhm quelle wie der Schaum überkochender Milch in die Welt hinaus. Alfonsina benutzt oft Begriffe aus dem sinnlichen Leben, aus dem Alltag, auch um zu verblüffen, gerade in den schöngeistigen Gefilden der bürgerlichen Kultur.
Wenn Sie sagen, Stornis Begriffe seien sinnlich und alltäglich geprägt, erinnert mich das an eine stereotypische Unterscheidung von «weiblicher» Sprache gegenüber einer «männlichen», die als abstrakter und intellektueller gilt.
Das hat etwas. Es gibt Zeitgenossen, die sprachen Storni jede Intellektualität ab, andere fanden sie durch und durch, ja übermässig intellektuell. Storni wusste, wie relativ solche Zuschreibungen sind und machte sich drüber lustig. Ich mache ein Beispiel: Als in den 1930er-Jahren die Literaturakademie von Buenos Aires gegründet und nur mit Männern besetzt wurde, fragte ein Journalist Storni, warum sie nicht ins höhere Gremium berufen wurde. Sinngemäss sagte sie: «Wir Frauen können den Punkt auf dem i nicht richtig setzen.» Sie war unerhört schlagfertig.
Storni wird auch als Feministin bezeichnet.
Für ihr gesellschaftspolitisches Engagement stimmt das sicher. Aber sie hat viele Seiten. Als Humanistin interessierte sie sich für die seelisch-geistige Entwicklung, individuell und kollektiv. Das Geschlecht darf in der Kunst keine Rolle spielen. Das 20. Jahrhundert verpflichtete einen zur Modernität.
Wie schätzen Sie Stornis Wirkungsmacht ein? Durch Kolumnen in viel gelesenen Zeitungen erreichte sie ja auch ein grosses Publikum jenseits der Literaturszene.
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Die Freidenker-Kreise, in denen sie mitkämpfte, hatten durchaus eine gesellschaftliche Wirkung. Storni stiess ihr Publikum gerne vor den Kopf. Provokation war ihr wichtig! Es war aber nie kalte Kritik, sondern mehr ein «Ich gebe dir einen Tritt ins Füdli, hopp vorwärts! Heute erlebe ich oft, wenn ich Alfonsinas Texte vortrage oder über sie referiere, dass eine Energie im Raum ist, die die Leute anzündet. Ich bekomme häufig Feedbacks, dass sich die Zuhörer durch die Texte ermutigt und inspiriert fühlen. Das ist mir mit anderen Autoren nicht passiert. Stornis Texte bieten einen Reichtum ohnegleichen, der die Leser an ihre eigene Kreativität erinnert.