Der bauchnabelfreien Sommermode verdanken wir eigentlich die neuen Geschichten von Isolde Schaad. Die Autorin ist bekannt für ihren zeitkritischen Blick. Und eines Tages fiel ihr auf, was sie schon oft gesehen hatte: Die freien und oft auch schwangeren Bäuche der Frauen in einer Zürcher Strassenbahn. Sie begann zu recherchieren und entdeckte die kulturgeschichtliche, medizinische, physiologische und ästhetische Dimension des Themas. Zu entdecken im neuen Erzählband «Am Äquator. Die Ausweitung der Gürtellinie in unerforschte Gebiete».
Vom Bäuchlein zum Waschbrett
Schön war eine Frau im Mittelalter nur, wenn sie ein stattliches rundes Bäuchlein hatte. Und der Bourgeois der Gründerzeit war stolz auf seine Wampe. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Waschbrett zur Idealform des Rumpfes zwischen Brustkorb und Becken. Verachtet wurde fortan der Ranzen, von dessen unermüdlicher Verdauungsarbeit wir leben. Unsichtbar sollte der Bauch der Frauen sein, der das Leben gebiert.
Die Wissenschaft kam zu der Erkenntnis, dass unser Gehirn mehr vom Bauch gesteuert wird, als wir wahrhaben wollen. Und mit der Parole «Mein Bauch gehört mir» hat die Frauenbewegung in Europa einen historischen Fortschritt durchgesetzt. Ein Politikum sind auch die Hungerbäuche.
Wundersame Wendungen
Sendung zum Thema
Isolde Schaad erzählt und erfindet vor diesem Hintergrund. Sie geht frei und locker mit dem Thema um. Da erscheint eine russische Tänzerin, die mit ihrem Bauch verheiratet ist – ja doch, der Bauch entwickelt alle Eigenschaften eines Mannes, inklusive Eifersucht auf Nebenbuhler. Eine andere Frau glaubt fest an ihre Scheinschwangerschaft – das ergibt so ganz nebenbei eine glänzende Satire über das Frauenleben in den 1970er-Jahren. Und die energische IKRK-Delegierte, die eigentlich den Sinn ihres Lebens im Beruf gefunden hat, stürzt in Afrika plötzlich in eine absolute, bedingungslose Lebensliebe.
Isolde Schaads Figuren sind widersprüchlich und spannungsreich. Ihre Geschichten nehmen fast immer überraschende Wendungen. Das Erwartbare, das sorgfältig aufgebaut wird, tritt zumeist gerade nicht ein. Zu den bekannten Qualitäten der Autorin wie Ironie, zeitkritischer Blick, Verankerung in der Geschichte der Frauen und der 68er, tritt in diesen Erzählungen noch eine stärkere Gelassenheit, ja, manchmal sogar eine schöne, menschliche Melancholie.
Lotterpuppe oder Jeanne d’Arc?
Eine besondere Frauenfigur dieser Erzählungen ist die gemalte Figur links. Eine von Ferdinand Hodler 1902 gemalte Figur. Ihr Name: «Die Wahrheit». Finden Sie die Figur auch ziemlich fremd, blass, unattraktiv? Das fand der Kunststudent Hanskonrad Arter in den 60er-Jahren auch. Damals schwärmte er für Brigitte Bardot, und derlei Sehnsüchte konnte Hodlers Miss Wahrheit natürlich nicht befriedigen.
Als er aber viele, viele Jahre später Hodlers Bild restaurieren muss, geschieht ein Wunder: Die Lotterpuppe wird zur Jeanne d’Arc, sie rächt sich für die Verachtung, die der junge Mann einst für sie hegte, und sie bewirkt eine grundsätzliche Veränderung in dem Manne. Zwischen den beiden entsteht eine Liebesbeziehung. Der verklemmte Zürcher Zwinglianer Hanskonrad Arter macht einen Befreiungsprozess durch. Wie das alles möglich ist? Das ist eben nur in der Literatur möglich, das sind die Wunder der Literatur.