An einem Sommermorgen sass ein Schneiderlein an seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Plötzlich schwirrte um seine grossen, schwarzen Ohren eine Schar Fliegen. Mit seinem flinken Händchen, das vier Finger zählte, schlug es entschlossen zu und staunte nicht schlecht: «Sieben auf einen Streich!».
Dieser Satz ist Generationen von Kindern wohl genauso vertraut wie die Beschreibung der sonderbaren Gestalt mit den grossen, schwarzen Ohren. Mickey Mouse schlüpft 1938 in die Rolle des tapferen Schneiderleins und gibt dem berühmten Fliegentöter ein neues Gesicht als «Brave Little Tailor». Es ist eine neun-minütige und vor allem weichgespülte Kurzfassung des Märchens, die mit dem Original der Brüder Grimm nur noch wenig zu tun hat.
Das saubere Image der guten Maus
Wer das Volksmärchen kennt, den wird es nicht wundern, warum Disney seiner unschuldigen Maus viele Passagen erspart. Denn der Schneider zeichnet sich eben nicht durch seine Tapferkeit aus. Er ist ein grossmäuliges Schlitzohr, das zum Prahlen in die Welt hinauszieht und mit seinen Angebereien alle übers Ohr haut.
Solche fragwürdigen Charakterzüge passen ganz und gar nicht zu Mickey. Schliesslich steht die Comic-Ikone für ewigen Optimismus, Anstand und Moral.
Diese Attribute waren in den USA der 1930er-Jahre, also zwischen den Weltkriegen, gefragt. Man könnte also meinen, Mickey Mouse kann – im Gegensatz zum Schneiderlein – nicht mal einer Fliege was zu leide tun. Was gefiel Walt Disney also an der Märchenfigur?
Der Schneider lebt den «American Dream»
In der Grimm-Sammlung gibt es mehrere Schneidermärchen: «Der Schneider im Himmel», «Vom klugen Schneiderlein» oder «Der Riese und der Schneider». Immer hat der Kleidermacher handwerkliches Geschick und einen scharfen Verstand, gleichzeitig ist er ein armer und unbedeutender Wicht. Er steht in der Märchenwelt für den kleinen Mann, der Grosses erreicht – wenn er an sich glaubt.
Und das wiederum ist der «American Dream»: vom Tellerwäscher zum Millionär. Das schafft Mickey Mouse als «Brave Little Tailor», ohne sich seine acht Finger schmutzig zu machen (lässt man die Fliegen weg). Als Belohnung für seine Heldentaten darf er Minnie Mouse ehelichen. Wer braucht in der herrlichen Märchenwelt schon Geld, wenn der Hauptpreis die Liebe ist.