Der 80-jährige Analphabet Sayyed el-Dawwy ist der letzte, der die Sira beherrscht. Sein ganzes Leben hat er der Sira gewidmet und sie so verinnerlicht, dass er über die Geschichten improvisieren kann. Wenn Sayyed el-Dawwy stirbt, geht mit ihm diese traditionelle Erzählform verloren.
Odyssee des Orients
Das Lernen der Sira ist nicht nur eine Lebensaufgabe, sondern auch eine für das Gedächtnis. Es heisst, sie bestehe aus fünf Millionen Versen. Oft wird sie mit der Odyssee verglichen, eine einstmals ebenfalls mündlich überlieferte Geschichtensammlung, die von Homer niedergeschrieben wurde.
Durch das schriftliche Festhalten der Odyssee wurde ihre Weiterentwicklung gestoppt. Sayyed el-Dawwy möchte die Sira-Tradition lebendig halten. So gibt er die Geschichten mündlich an seinen Enkel Ramadan weiter.
Philosophie und Fantastisches
Die Geschichten des Wüstenvolks Bani Hilal sind der populären Geschichtsschreibung zuzuordnen, wobei viel dramatisiert und Fantastisches hinzugedichtet wurde: Der Held Abu Zaid muss immer wieder gegen Dschinns und andere Geister kämpfen.
Die einzelnen Geschichten sind so unterschiedlich, sodass für jeden etwas dabei ist: Erwachsene erfreuen sich über gelungene Verse und philosophische Weltanschauungen, Jungen träumen von Abu Zaids Schwert.
Von Musikern begleitet
Bei traditionellen Sira-Vorstellungen, die sich über viele Stunden hinziehen können, wird der Sira-Interpret von Musikern begleitet. Der Gesang ist eindringlich schön. Interpret Sayyed el-Dawwy wählt Geschichten aus, die am Besten zum jeweiligen Publikum passen.
Er beginnt mit einem religiösen Intro, bevor er in die Geschichten eintaucht, in die er auch Aktuelles aus dem Weltgeschehen einbaut. Jede der Geschichten enthält eine Moral und endet mit einem Cliffhänger, sodass das Publikum gespannt auf die Fortsetzung wartet.
TV verdrängt die Sira
Im Gegensatz zu früher, als die Sira ein wichtiger Zeitvertreib in Ägypten war und in Kaffeehäusern und an Hochzeiten vorgetragen wurde, steht sie heute in grosser Konkurrenz mit den modernen Unterhaltungsformen wie das Fernsehen.
Die traditionelle Sira wird vorwiegend auf dem Land vorgetragen und ist eine Männerdomaine: Männer erzählen vor einem vorwiegend männlichen Publikum, es wird getanzt und interveniert. Anders in den grossen Städten Ägyptens. Hier wird Sira auch in Kulturhäusern präsentiert. Das Publikum, in dem sich auch viele Frauen befinden, betrachtet die traditionelle Sira als Kuriosum.
Die Sira gibt heute noch Halt
Die Sira erfährt immer dann Aufwind, wenn die Menschen in besonders unsicheren Zeiten leben. Die Sira gibt Halt. So wurde während der ägyptischen Revolution von 2011 auch aus der Sira gesungen: Geschichten über den Helden Abu Zaid, der immer auf der Seite der Unterdrückten steht, waren genauso wichtig wie jene über die starke Gazia, die sich für die Anliegen der Frauen einsetzt.
Die Sira und die Frauen
Eine Schülerin von Sayyed el-Dawwy bringt Auszüge der Sira heute auf moderne Art auf die Bühne. Dina El-Weddidi: «Er weiss, dass er die Quelle der Sira ist. Wir anderen sind nur eine Kopie. Die Quelle muss sich treu bleiben, die Kopie soll verändern.»
Dina El-Weddidi änderte zwar den Wortlaut der Sira nicht, doch statt traditionellen Instrumenten integrierte sie Drums, elektrische Gitarre und sogar einen Frauenchor. Somit macht sie die Sira auch einem städtischen, modernen Konzertpublikum zugänglich – und hält sie lebendig.