Eugen Drewermann, sind Märchen eine Form von Trost gegen die Angst?
Es gibt Märchen, die vom Tod reden. Im Märchen «Der Fundevogel» taucht er auf als die Köchin Sanne, die hinter den Menschen her läuft und sie einfangen will. Das sind eigentlich existentielle Parabeln auf unser Dasein.
Wie meinen Sie das?
Im Märchen vom «Fundevogel» gilt es in drei verschiedenen Lebensabschnitten, den Knechten der bösen Köchin, also den Boten des Todes, zu begegnen. Und es geschieht jeweils durch eine Verwandlung. Zuerst in der Jugendzeit: Lenchen soll ein Röslein werden, und der Fundevogel ein Rosenstrauch. Wenn wir lernen, so schön, so vital zu leben, weil wir noch jung sind, hat der Tod kein Objekt, nach dem er greifen könnte.
Wie geht es weiter?
In der Mitte des Lebens, am allerschönsten: Fundevogel und Lenchen verwandeln sich in eine Kirche mit einer Krone drin. Nehmen wir an, es ist eine Geschichte für 50-Jährige in der Midlife-Crisis. Was fangen wir an mit uns, wenn unsere biologischen Ziele erfüllt und die Kinder ausgezogen sind, wenn unsere Partnerschaft neue Gründe braucht für weitere 30 bis 40 Jahre? Da meint dieses Märchen: Es kommt darauf an, die eigene Unverzwecktheit zu begreifen.
Es muss einen Raum geben, in dem nicht mehr gefragt wird, was ich mit Dir machen kann. Wo der Einzelne eine Art Heiligtum ist, das man nicht mit Zugriff in bestimmte Finalisierungen treiben kann. Dieser Heiligtumsraum wäre die Kirche im Märchen «Fundevogel». Und Krone bedeutet so viel wie: Sei Dein eigener Souverän. «Be your own chairman.» Gestalte Deine eigene Kompetenz, Autonomie und Autorität, zumindest im Spielraum, wo Du selbst gefragt bist. Das wäre die zweite Verwandlung.
Und die dritte?
Wir lassen uns darauf ein, dass wir sicher sterben werden – ausser wir «verunendlichen» unser Leben in der Hoffnung auf Auferstehung. Da wird ein See gebildet, und eine Ente drauf. Darin wird die böse Köchin hineingezogen in die unendliche Erwartung von Zeit und Ewigkeit. Das wäre die dritte Verwandlung. So haben wir in «Fundevogel» drei Wandlungsstufen, die im Hintergrund Psychologie und Religion auf das Dichteste zusammenfügen. Das ist nur ein kleines Grimmsches Märchen als Parabel auf unser Dasein.
Sie sagen, Märchen helfen mit, unseren Platz in der Welt zu verstehen. Geraten Sie damit als Theologe nicht in Konkurrenz zur Bibel?
Manche Theologen haben mir vorgeworfen, ich mache aus der Bibel ein Märchenbuch. Nur, weil sie sich selber weigern, die Märchen ernst zu nehmen. Sie glauben, sie verstehen die Sprache Gottes, wenn sie die Sprache der Kinder, der Träume, der Märchen, des Unbewussten tunlichst vermeiden. Die Hauptbotschaft der Märchen ist eigentlich, an die Liebe zu glauben. Und darin unterscheiden sie sich von allen anderen Erzählformen der Weltliteratur. Überall scheitern die Liebenden: in den griechischen Mythen, bei Shakespeares «Romeo und Julia» bis hin zu Tolstois «Anna Karenina».
Und in den Märchen gelingt die Liebe?
Die Märchen kennen die Gefahren auf dem Weg zur Liebe. Da ist die Liebende, die man nur als Bild mit sich trägt. Sie ist mit Sicherheit verzaubert, wohnt in unzugänglichen Orten, hinter dem Wald oder auf einem gläsernen Berg. Es sind Kämpfe zu bestehen, die letztlich davon handeln, mit sich identisch zu werden, die Konflikte abzuarbeiten, die es erlauben, überhaupt den Anderen unverstellt wahrzunehmen. Und dieser Reifungsprozess zur Liebe ist ein wunderbares Thema in den Märchen. Das ist sozusagen die Einleitung für jede Religion. An der Stelle berührt sich tatsächlich die Botschaft der Märchen mit jener der Bibel. Aber man muss sie aufeinander zuordnen. Sie sind keineswegs identisch und schon gar nicht in Konkurrenz.