Wie schon in früheren Büchern geht Maxim Biller auch in «Sechs Koffer» von seiner eigenen Familie aus: Die Protagonistinnen und Protagonisten – Vater, Mutter, Grossvater, Onkel und Schwester – sind real. Ebenso die Rahmenhandlung.
Dann aber verwischen sich die Grenzen zur Fiktion. Und damit sind wir mitten drin in diesem geschickt konstruierten Roman und seiner nüchternen Sprache, die jede Sentimentalität ausschliesst.
Die Suche
Die Hauptfigur – ein im Hier und Jetzt lebender Ich-Erzähler – ist getrieben von der Frage, was in seiner Familie, in den zwei Generationen vorher, eigentlich geschehen ist. Was ist die Ursache des dunklen Schattens, der bis heute über der Familie liegt?
Soviel ist klar: Es geht um den russisch-jüdischen Grossvater. Er wohnte mit seiner Frau und seinen vier Söhnen in der kommunistischen Sowjetunion, in Moskau und wurde 1960 hingerichtet.
Dies, nachdem der sowjetische Geheimdienst Wind davon bekommen hatte, dass der Mann Schwarzmarkt-Geschäfte betrieb. Aber: Wer hat den Grossvater damals verpfiffen?
Alle unter Verdacht
Die ganze Verwandtschaft steht unter Verdacht - in erster Linie die vier Söhne: der Vater des Erzählers und dessen drei Brüder. Sie alle leben unlängst im Westen. Aber ihr Verhältnis ist seit dem Tod des Grossvaters gestört. Jeder verdächtigt jeden. Und wer hat danach genau was getan und dabei wem was zugefügt?
Wir begleiten den in Berlin wohnenden Erzähler bei seiner Suche nach der Wahrheit. Sie entzieht sich ihm immer wieder von Neuem: «Nein, nein, nein! Es war einfach zum Verrücktwerden! Ich sass am Schreibtisch und spielte immer weiter alle möglichen und unmöglichen Varianten von Verrat und Diebstahl und Mord durch, die mir einfielen.»
Der Ich-Erzähler quetscht seinen Vater aus. Er befragt seine Onkel, studiert Geheimdienst-Akten. «Sechs Koffer» entwickelt sechs unterschiedliche Perspektiven auf die Vergangenheit.
Verhüllte Wahrheit
Der Erzähler gelangt dadurch zwar im Laufe des Romans zu stets neuen Einsichten. Aber die Wahrheit entzieht sich ihm dennoch beharrlich: Mit jeder Antwort stellen sich neue Fragen.
«Was hiess das? War der Grossvater ein KGB-Spitzel geworden? Und hatte er zweieinhalb Jahre später vielleicht sogar seinen Sohn Dima an die Geheimdienstleute verkauft, um so vergeblich sein eigenes Leben zu retten?»
Mit grosser literarischer Kunst beteiligt Maxim Biller uns Leserinnen und Leser an der Suche in der Vergangenheit. Er baut geschickt Spannung auf, sodass sich das Buch zwischenzeitlich wie ein Kriminal- oder Spionageroman liest.
Das Grauen
Je länger die Nachforschungen des Ich-Erzählers dauern, desto deutlicher entsteht das Bild einer Familie, in der es von menschlichen Abgründen nur so wimmelt: Zum Verrat gesellen sich Eifersucht, Betrug und Hass.
Man erfährt von einem Suizid, und dass Brüder wegen des Tods des Grossvaters über Jahrzehnte nicht mehr miteinander sprechen. Ehen zerbrechen.
Und irgendwann scheint der Ich-Erzähler selbst zu zerbrechen – an der Last der verstörenden Fakten, die er ans Licht befördert: «Nie wieder, dachte ich, will ich ein Familiengeheimnis wissen, nie wieder will ich in fremden Schubladen kramen.»
Konsequentes Ende
Am Ende bleibt der Roman offen – und damit die Wahrheit. Dies passt zur Konsequenz, mit der Maxim Biller seinen Ich-Erzähler der tabuisierten Vergangenheit aussetzt. Er – und wir mit ihm – erleben, dass sich die Vergangenheit weder verdrängen noch totschweigen lässt.
Sie vergeht nicht. Sie entfaltet ihre Macht - manchmal über Generationen hinweg. Ja, es gibt sie ganz offensichtlich: Wunden, die auch die Zeit nicht zu heilen vermag.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 8.8.2018, 07:20 Uhr