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«Miroloi» von Karen Köhler Gefangen in einer Welt mächtiger Männer

Fünf Jahre nach ihrem erfolgreichen Erzählband «Wir haben Raketen geangelt» legt Karen Köhler ihren ersten Roman vor: «Miroloi» ist die Selbstermächtigungsgeschichte einer jungen Frau. Eine mutige Geschichte, die zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht.

Eine Sache vorweg: «Miroloi» ist eine Parabel. Die Diskussion darüber, ob nun alles, was in diesem Buch steht, auch wirklich existiert, ist genauso sinnlos wie die Diskussion über die Existenz des Weihnachtsmanns.

Das aber, wofür die Parabel steht – die Männerherrschaft, der Fundamentalismus, der Machtmissbrauch, die Manipulation – das alles gibt es. Und unterscheidet sich in der Realität gar nicht mal so sehr von der Erscheinungsform in «Miroloi».

Ein Leben als Sündenbock

Aber der Reihe nach: Ein Miroloi ist ein Totenlied. Frauen dichten und singen es nach griechisch-orthodoxer Tradition für die Verstorbenen. In Karen Köhlers Roman allerdings singt eine junge Frau ein Miroloi auf sich selbst.

Die junge Frau hat keinen Namen und keine Geschichte. Sie ist ein Findelkind und dient der Gesellschaft als Sündenbock. Mehr oder weniger rechtlos lebt sie beim Betvater, der sie aufgezogen hat, und sehnt sich nach einem selbstbestimmten Leben.

Abgeschottet auf einer Insel

Ihre Welt, in der sie lebt, ist das Dorf. Weisse Häuser am Hang, darüber die Windmühle, nochmals darüber die Siedelei. Das Dorf liegt auf einer Insel. Die Insel mutet griechisch an, ist es aber nicht. Strom gibt es keinen hier. Nachrichten auch nicht. Die Zentralregierung, die irgendwo da drüber das Sagen hat, hat es hier nicht.

Hier herrscht ein Ältestenrat von 13 Männern und extrem patriarchale Strukturen. Mädchen müssen lange Röcke tragen und kriegen keine Bildung. Männer dürfen nicht tanzen oder kochen. Regeln werden überwacht. Es gibt einen Pfahl und einen Angstmann, und wenn jemand fliehen will, zertrümmert ihm der Angstmann das Bein.

Auch die junge Frau hat ein zertrümmertes Bein. Sogar eine eigene Religion hat Karen Köhler erfunden. Und eine heilige Schrift. Korabel heisst die. Aus Koran, Tora und Bibel.

Buchhinweis

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Karen Köhler: «Miroloi». Hanser Literaturverlage, 2019.

Echte Themen im künstlichen Kosmos

Die Konstruktion dieser Welt dient Karen Köhler als Labor. Und uns als Spiegel. Denn im künstlichen Kosmos werden reale Themen verhandelt. Karen Köhlers Thema ist die Selbstbestimmung der Frau.

«Miroloi» hat einen feministischen Hintergrund. Die junge Frau beginnt sich zu wehren, lernt heimlich lesen und schreiben, entdeckt die Sexualität und trifft einen Mann. Yael, den Betschüler. Doch die Liebe hat keine Chance. Das Dorf lässt die Selbstbestimmtheit der Frau nicht zu und macht sich schuldig.

Mutig und eigenwillig

Karen Köhler hat eine Welt erfunden, die viel erzählt. Monatelang hat sie dazu in einem griechischen Dorf gelebt und geschrieben. Dort hat sie auch eine Sprache gefunden, mit der sich ihre Geschichte erzählen lässt. Eine mit Wortkreationen und seitenlangen Leerstellen für die Momente, in denen es nichts mehr zu sagen gibt.

Ein mutiges Buch und ein eigenwilliges.Ein literarisches Experiment, in sich stimmig und geglückt.

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