Auch Marcel Beyer kommen manchmal Tränen. Obwohl er allen Grund hat, heiter und glücklich zu sein: Immerhin ist der 52-Jährige einer der renommiertesten deutschen Schriftsteller und erhielt im vergangenen Jahr den Georg-Büchner-Preis, die prestigeträchtigste Auszeichnung im deutschsprachigen Kulturraum.
Das letzte Mal bekam Marcel Beyer feuchte Augen, als er sich zusammen mit seiner Schweizer Frau die Neuverfilmung von «Heidi» anschaute. Er war gerührt, als er, ohne es zu erwarten, plötzlich Schweizer Mundart hörte. Und das in einem Kinosaal in Dresden.
Die Schweiz als Tränenumschlagplatz
Sein Buch hat den Titel «Das blindgeweinte Jahrhundert», und es schildert faszinierende Tränenmomente, erzählt von denen, die weinen, und jenen, die sie zum Weinen bringen. Die Idee kam Marcel Beyer wiederum in der Schweiz. Das Land scheint für ihn geradezu ein Tränenumschlagplatz zu sein.
Einmal, auf einer Wanderung im Wallis, suchte er eher aus Langeweile das Grab des Dichters Rainer Maria Rilke in Raron auf. Rilke ist der deutsche Tränendichter par excellence.
Durch Zufall entdeckte Beyer auf demselben Friedhof eine Gedenktafel, die an einen Besuch des ehemaligen westdeutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl an Rilkes Grab erinnerte.
Politik der Tränen
Der Besuch fand anlässlich eines offiziellen Staatsbesuchs von Helmut Kohl in der Schweiz statt. Und zwar im April 1989, nur Monate vor dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung. Bald würde der Kalte Krieg zu Ende sein und ein neues Zeitalter anbrechen.
Aber an jenem Apriltag genoss Kohl offensichtlich die idyllische Szene, lebte noch ganz im alten Jahrhundert, vergoss möglicherweise gar ein paar Tränen der Rührung am Grab des verehrten Dichters, während es hinter dem Eisernen Vorhang bereits brodelte.
Solche Tränenmomente, an denen sich kulturelle, zeitgeschichtliche oder politische Einschnitte ablesen lassen, interessieren Marcel Beyer in seinem neuen Buch. Subtil zeigt er, wie Tränen unterschiedliche Bedeutungen haben können, wie sich deren Funktion mit dem Aufkommen des Fernsehens und Internets verändern. Tränen lassen sich plötzlich medienwirksam einsetzen. Mit ihnen lässt sich Politik machen.
Von Heintje bis Pink Floyd
«Das blindgeweinte Jahrhundert» will keine Kulturgeschichte der Tränen sein und auch kein Tränenroman und ist doch beides zugleich: ein erzählendes und zugleich analytisches Buch über Tränenkultur, Tränenpolitik und Tränenbewirtschaftung.
Marcel Beyer geht es nicht darum, das an Kriegen und Schreckenstaten reiche 20. Jahrhundert in einer Art Tränenrevue nochmals passieren zu lassen. Vielmehr schildert er ganz subjektiv prägnante Momente, in denen Tränen fliessen. Insofern ist es ein sehr autobiographisches Werk.
Kein trauriges Tränenbuch
Der Autor arbeitet sich an manchen Gestalten ab, die für ihn prägend waren: Dazu gehört der Schlagersänger Heintje genauso wie die Gruppe Pink Floyd mit ihrem Sattelschlepperpathos, denen der ehemalige Spex-Mitarbeiter Marcel Beyer keine Träne nachweint. Sie waren für ihn immer eher für solide musikalische Hardware zuständig als für innovative Software.
Marcel Beyers Tränenbuch stimmt weder traurig, noch depressiv; im Gegenteil, es ist ein wunderbar anregendes, kluges und emotional tiefschürfendes Werk mit manchen witzigen und ironischen Tränentrocknern.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 25.6.2017, 11:00 Uhr