Anna Sommers feine Federzeichnungen sind von betörender Eleganz und Leichtigkeit. Sie wirken rund, weich und leicht, geradezu harmlos und unschuldig – doch darf man sich vom ersten visuellen Eindruck nicht täuschen lassen. Wie alle Comics von Anna Sommer ist auch «Das Unbekannte» voller Abgründe und hinterhältigem Humor.
Das Baby in der Ankleide
Eines Tages entdeckt Helen, Mitte vierzig und kinderlos, in der Ankleidekabine ihrer Modeboutique ein neugeborenes Baby. Sie beschliesst, es heimlich zu behalten.
Nicht einmal ihren Partner Paul weiht sie in den Familienzuwachs ein. Paul ist nämlich ganz froh, dass es mit dem Kinderkriegen nicht geklappt hat und schafft sich lieber einen kleinen Hund an.
Auch Paul führt ein Doppelleben. Er versucht, die Affäre mit der wie eine Klette an ihm hängenden Schülerin Vicky zu beenden. Vicky wiederum frisst sich fett, um ihre Schwangerschaft zu vertuschen.
Sex, Lügen und Missverständnisse
Die Ausgangslage von «Das Unbekannte» ist komplex und führt direkt ins Herz der Themen, die Anna Sommer seit ihrem Erstling «Damen Dramen» vor gut zwanzig Jahren umkreist: Beziehungen, Liebe, Sex, Vertrauen, Lügen und Missverständnisse.
Anna Sommer hingegen ist keine Unbekannte. Die Zürcher Illustratorin und Comic-Zeichnerin hat sich international einen Namen gemacht als Erzählerin von ungewöhnlich subtilen und doch eindringlichen Geschichten, in denen meist Frauen im Mittelpunkt stehen.
Bereits vor der deutschen Veröffentlichung sorgte «Das Unbekannte» in Frankreich für überschwängliche Rezensionen und schaffte es auf die Short-List für den Preis des besten Comics am internationalen Comic-Festival von Angoulême. Es ist der bedeutendste Comic-Preis Europas.
Zu spät für eine gütliche Auflösung
Im Mittelpunkt von «Das Unbekannte» stehen Helen und Vicky, zwei Frauen, die ihre Lebenskrisen auf unkonventionelle Weise lösen: Helen ihren Kinderwunsch, Vicky die unerwünschte Schwangerschaft.
Dass sie dabei auf mehr oder minder erfolgreiche Weise gängige gesellschaftliche Moralvorstellungen und Verhaltensweisen biegen und unterlaufen, macht sie zu echten, ambivalenten Persönlichkeiten.
Auch die Erzählstruktur der Geschichte ist raffiniert: Dass die beiden Handlungsstränge – Helen und der Säugling, Vicky und die Schwangerschaft – auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen erzählt werden, begreift der Leser erst, als es schon zu spät für eine gütliche Auflösung des Dramas ist.
Viele Lücken für den Leser
Mit ihrem reduzierten, aber genauen Federstrich fängt Sommer nur das Notwendigste ein, die Essenz des Geschehens – und schafft es dennoch, ihren Figuren Kontur, Persönlichkeit und Tiefe zu geben.
Auch die Gestaltung der Seiten, auf denen sich die Figuren frei über die Seiten zu bewegen scheinen, ist leicht und luftig und lässt viele Lücken, die der Leser selber füllen muss.
Unterschwellige Spannung
Doch unterschwellig wachsen aus all diesen Missverständnissen, Heimlichtuereien und Lügen eine unangenehme Spannung und eine hinterhältige, nie offen zum Ausdruck kommende Gewalt.
Diese Spannungen steigern sich dermassen, dass die vordergründig vernünftig wirkende Auflösung der verzwickten Geschichte unmöglich als Happy End empfunden werden kann. Sie lässt mehr Fragen offen, als sie beantwortet.