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Studie: Artus war nicht alleine!
Aus Kultur-Aktualität vom 01.03.2022. Bild: KEYSTONE/Gian Ehrenzeller
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Neue Studie Artus war nicht der einzige seiner Art

Viele Heldensagen haben das Mittelalter nicht überlebt. Jetzt bringen Forschende Licht in die Dunkelziffer – mit ungewöhnlichen Methoden.

Die Legende um König Artus ist in zahlreichen literarischen Werken des europäischen Mittelalters festgehalten. Die mittelalterlichen Heldenepen leben bis heute fort – in Ritterfilmen, Romanen und Comics. Eine Studie im Fachblatt Science wirft nun ein neues Licht auf alle jene Geschichten, welche die Jahrhunderte nicht überlebt haben.

Computergestützte Verfahren

Den Literaturwissenschaftler und Mittelalter-Spezialist Mike Kestemont interessiert das Rätsel um die verlorenen mittelalterlichen Mythen seit seinem Studium. Historische Hinweise dazu seien jedoch spärlich, sagt Kestemont. Eindeutige Antworten gebe es keine.

König Artus zieht ein Schwert aus dem Stein in einem Disney-Film.
Legende: Artus hat es zu Weltruhm gebracht: Hier zieht der junge König im Disney-Animationsfilm «Die Hexe und der Zauberer» das berühmte Schwert «Excalibur» aus dem Stein. IMAGO / Everett Collection

Das Rätsel wollen Forschende nun mit computergestützten Verfahren lösen. Zusammen mit seinem Kollegen Folgert Karsdorp aus Amsterdam stiess Mike Kestemont auf eine Methode, die normalerweise in der Ökologie benutzt wird. Es handelt sich dabei um das sogenannte «Unseen Species Model» – das Modell der «unentdeckten Arten». 

Zählen allein reicht nicht

«Angenommen, man will in einem bestimmten Gebiet herausfinden, wie eine Naturkatastrophe das Vorkommen von Flora und Fauna verändert hat», erklärt Mike Kestemont. «Das Naheliegendste wäre, zu zählen, was man sieht und daraus die Artenvielfalt zu errechnen.» Auf diese Weise gehe einem aber eine Vielzahl an Arten durch die Lappen.

Diese «Datenverzerrung» lasse sich jedoch mit der Modelliermethode der «unentdeckten Arten» statistisch korrigieren. Dabei wird aus der Anzahl der entdeckten Arten die tatsächliche Zahl von Tier- oder Pflanzenarten in einem bestimmten Gebiet näherungsweise bestimmt: eine Wahrscheinlichkeitsrechnung sozusagen.

Mit der Kraft der Naturwissenschaft 

Dieses Prinzip hat ein internationales Team um Mike Kestemont auf die mittelalterliche Literatur übertragen. Die Forschenden beschränkten sich dabei auf Helden- und Ritterepen: zum Beispiel jene von König Artus, Siegfried dem Drachentöter oder von Ragnar Lodbrok, dem Wikingerkönig. Analysiert wurden Werke aus sechs Sprachen, die in insgesamt 3648 Büchern festhalten waren.

Die Überlegung der Forschenden: Unter dem «sichtbaren» Teil von Büchern muss es einen grossen Teil von vergessenen oder unentdeckten Büchern geben. Analog zum «Modell der unentdeckten Arten» behandelten sie ein Werk – etwa die Artus-Sage – wie eine Spezies. Die Anzahl der erhaltenen Bücher, in denen das Werk festgehalten ist, setzten sie der Anzahl Individuen gleich, die man in freier Wildbahn sichtet.

Eine Illustration zeigen Siegfried den Drachentäter, einen Schmied und den Drachen.
Legende: Die Geschichten rund um Siegfried dem Drachentöter sind weitestgehend überliefert: Ein Schmied bringt dem Helden ein Trinkhorn. IMAGO/H. Tschanz-Hofmann

So habe man zwei Dinge gleichzeitig abschätzen können», sagt Mike Kestemont: «Einerseits die Anzahl physischer Bücher beziehungsweise Manuskripte, die verloren gegangen ist und anderseits den Verlust von Geschichten.»

Die Resultate bestätigten das, worauf schon historische Befunde hingedeutet hatten: Rund ein Drittel der mittelalterlichen Heldenepen hat nicht überlebt. Bei den Manuskripten gingen über 90 Prozent verloren. Manche fielen dem Feuer in Klöstern zum Opfer. Andere wurden als Packmaterial oder zum Verstärken von Bischofsmützen verwertet.

Vorteil Insel

Die Analyse brachte auch Überraschendes zutage: In Island und Irland sind – im Vergleich zu den Sagen aus England – vier Fünftel aller Heldengeschichten erhalten geblieben. Auch viele Manuskripte haben überlebt.

Die Forschenden vermuten, dass dies am besonderen Ökosystem der Inseln liegt: «In der isolierten insularen Umgebung waren die Manuskripte gleichmässig übers Land verteilt. Das heisst: Wenn mal ein Feuer brannte, ging nicht alles verloren», sagt Mike Kestemont.

Fern vom Festland waren die Bücher auch besser vor äusseren Einflüssen wie Kriegen geschützt. Das Ökosystem einer Insel bewahrt nicht nur das biologische, sondern auch das kulturelle Erbe besonders gut.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 01.03.2022, 07:52

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