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Neuer Roman «Der Absturz» Arbeitermilieu, Alkohol, Absturz: So starb Édouard Louis' Bruder

Der französische Erfolgsautor Édouard Louis schliesst die Erzählung seiner Familiengeschichte ab: «Der Absturz» ist eine radikal soziologische Spurensuche über den Alkoholtod seines Bruders.

«Als ich vom Tod meines Bruders erfuhr, empfand ich nichts; weder Traurigkeit noch Verzweiflung noch Erleichterung noch Freude.» So beginnt «Der Absturz», Édouard Louis neues Buch. Darin setzt sich der französische Schriftsteller mit dem frühen Alkoholtod seines Bruders auseinander.

Er wurde nur 38 Jahre alt.

Mann mit blonden Haaren und dunklem Pullover vor Wand, Porträt
Legende: In seinem letzten Buch, «Monique bricht aus», schrieb der französische Schriftsteller Édouard Louis über seine Mutter. In «Der Absturz» widmet er sich nun seinem Bruder. Christian Werner

Édouard Louis schreibt über seine widerstrebenden Gefühle ihm gegenüber. Er habe seinen Bruder oft gehasst, darum wolle er ihn verstehen, darum wolle er über ihn schreiben – auch wenn die Einsichten zu spät kommen sollten.

Die Handlung setzt ein mit einem Telefonat der Mutter und der Bitte, so schnell wie möglich zu ihr zu kommen. Auf der Zugreise von Paris nach Amiens kommen Erinnerungen an den Bruder hoch. Édouard Louis denkt über ihre geschwisterliche Beziehung nach und erkundet sich dabei selbst.

Trinken als Flucht

Den Tod des Bruders beschreibt er als ein gesellschaftlich bedingtes Drama, das eng mit Klassenunterschieden, mangelnder Elternliebe und fehlenden Chancen verknüpft ist. Sein Bruder sei wie er selbst im Arbeitermilieu aufgewachsen, das sei geprägt gewesen von Gewalt, Rassismus, Homophobie, männlicher Dominanz und Alkohol.

Trinken sei für den Bruder Flucht gewesen. Aber der Alkohol sei zu seinem Gefängnis geworden. Édouard Louis schreibt radikal ehrlich. Diese Offenheit elektrisiert.

Der Bruder sei ein Schläger, Schwulenhasser und Alkoholiker gewesen, aber auch ein grosser Träumer. Er hätte sich nach Sinn und Anerkennung gesehnt. Doch die soziale Herkunft habe diese Träume platzen lassen.

Vor Verzweiflung gestorben?

In analytisch-bildstarken Miniaturen findet Édouard Louis dazu treffende Worte:

«Mein Bruder starrte zu Boden und atmete schwer aus, er stiess langsam die Luft aus – und dazu fällt mir ein Bild ein, es kommt mir vor, als hätte mein Bruder immer wieder vor Verzweiflung schwer ausatmen müssen, ich habe den Eindruck, als hätte all dieses Ausatmen ihm seiner Lebenskraft beraubt, als hätte er langsam sein Leben ausgehaucht, und vielleicht ist er daran gestorben, daran, dass all diese Luft viel zu früh aus seinem Körper gewichen ist, vielleicht hatte mein Bruder nur einen bestimmten Vorrat an Sauerstoff zur Verfügung, einen begrenzten Vorrat, und er hat ihn zu früh aufgebraucht.»

Um die seelischen Nöte seines Bruders zu verstehen, führt Édouard Louis auch eine überraschende Hypothese ins Feld. Sie stammt vom Zürcher Daseins-Psychologen Ludwig Binswanger: Nur die Liebe könne die Zeit vergehen lassen. Nur die Liebe gebe einem Individuum die nötige Stabilität und Sicherheit, im Leben vorwärtszugehen und zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden. Ohne Liebe keine Zeit.

Und genau darum sei der Bruder aus der Zeit gefallen. Zu diesem existentialistischen Schluss kommt Édouard Louis in seinem lesenswerten Buch.

Buchhinweis

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Édouard Louis: «Der Absturz». Aus dem Französischen von Sonja Finck. Aufbau Verlag, 2025.

 

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 17.9.2025, 7:06 Uhr

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