So lange er zurückdenken kann, pendelt der knapp 13-jährige Théo zwischen seinen zerstrittenen Eltern hin und her: eine Woche hier, eine Woche dort.
Jedes Mal, wenn er zur Mutter zurückkehrt, muss er immer gleich duschen und seine Kleider – separat – in einen Wäschekorb schmeissen. So, als käme er aus einer verseuchten Zone.
Taub für die Nöte des Kindes
«Und jedes Mal möchte er in genau diesem Augenblick zu ihr gehen und leise alles gestehen. Er möchte ihr sagen, wie viel Angst er um seinen Vater hat, wie sehr er diese dunkle Macht spürt, die ihn zermalmt und am Boden hält.»
Aber er wagt es nicht, weil sie ihm zu verstehen gibt, wie sehr sie ihren Ex-Mann hasst. Und weil er spürt, dass die Verbitterung sie taub gemacht hat für die Nöte ihres Kindes.
Alkohol als Rettung
So flüchtet sich der Junge heimlich in den Alkohol. Am liebsten möchte er sich ins Koma trinken, um diese unerträgliche Situation zu vergessen.
Théo zerbricht innerlich an seiner blinden Loyalität zum Vater: Dieser Mann ist nur noch ein Wrack – arbeitslos, depressiv und kaum noch fähig, seine Betreuungspflichten wahrzunehmen. Aber aus Angst, das Sorgerecht zu verlieren, fleht er Théo an zu schweigen.
Wachsame Augen
Zum Glück gibt es Hélène, die Biologielehrerin. Ihr wird bald einmal klar, dass dieser Schüler Hilfe braucht. Nur kennt sie weder die Gründe für seine Blässe, noch weiss sie, wie sie an sein Geheimnis herankommt.
Aber weil sie selbst als Kind misshandelt worden ist, hat sie sich geschworen, in dieser Hinsicht wachsam zu bleiben: Diese Loyalität ist sie sich und ihren Schützlingen gegenüber schuldig.
Die ganze Bandbreite von Loyalität
Es habe sie gereizt, einmal alle Spielarten von «Loyalität» auszuloten, sagt Delphine de Vigan. «Natürlich gilt sie zu Recht als eine Tugend. Loyalität sind wir uns selbst und unserem Umfeld schuldig. Nur so ertragen wir täglich den Blick in den Spiegel.»
Aber es gebe auch eine dunkle Seite der Loyalität: Jene, die uns auf Abwege bringt, einsperrt oder sogar krank macht – so wie Théo.
Schicksal von Scheidungskindern
Delphine de Vigan kennt das seelische Dilemma vieler Scheidungskinder aus eigener Erfahrung. Als auch sie und ihr Mann sich trennten, waren sie sich einig: Ihre Differenzen sollten nicht auf dem Buckel der nächsten Generation ausgetragen werden.
«Dennoch spürte ich auch bei meinen Kindern, wie schwer es für sie war, von einer Welt in die andere zu wechseln. Und dass sie geradezu automatisch einen Schweigepakt geschlossen hatten.»
Balanceakt am Abgrund
Mit «Loyalitäten» hat Delphine de Vigan einmal mehr bewiesen, wie stark sie sich in die Seelennöte von heranwachsenden Menschen hineinfühlen kann. Sie wird dem Stoff sprachlich und formal gerecht.
Wie bei einem Thriller ahnen wir von der ersten Seite an: Théo balanciert am Abgrund. Und wenn nicht bald jemand aktiv in sein Schicksal eingreift, kommt es zur Katastrophe.