Der neue Roman von Thomas Hürlimann dreht sich um die eine Grundfrage: Wer bin ich? «Wo immer ich bin, was auch passiert ist: Der Name verbindet mich mit meiner früheren Existenz… Ich weiss, wie ich heisse. … Doch wer sind diese Leute, die mich auf einer Bahre tragen? Halt, möchte ich rufen, stellt mich ab, erklärt mir, was los ist!»
Es ist Heinrich Übel, der Hauptprotagonist des Romans «Heimkehr», der sich diese Frage stellt. Ist er derjenige, von dem er glaubt, er sei es? Oder bildet er sich seine Identität lediglich ein?
Folgenreicher Autounfall
Die existenzielle Verunsicherung setzt in jenem Moment ein, als Heinrich Übel in einem Schweizer Bergtal einen Autounfall verursacht und dabei das Bewusstsein verliert.
Als er erwacht, findet er sich in einem Hotel in Sizilien wieder. Er hat keine Ahnung, wie er dorthin gelangt ist. Hinzu kommt, dass man ihm dort mit grossem Respekt und Ehrerbietung begegnet.
Man hält ihn offenbar für einen Prominenten. Heinrich Übel jedoch weiss, dass dies nicht stimmen kann: Er ist ein Fabrikantensohn ist, der in seinem Leben mehr oder weniger gescheitert ist. Aber was ist geschehen?
Die Spur des Lebens
Die Suche nach dem wahren Selbst bildet den roten Faden durch Thomas Hürlimanns Roman. Und als Leserin oder Leser ist man dankbar, dass es diesen Faden gibt: Er vermittelt ein Stück weit Orientierung, denn das Buch operiert auf verschiedenen Ebenen und hat einen virtuos fabulierenden Sprachfluss.
Tatsächlich verläuft Heinrich Übels Suche nach der Wahrheit alles andere als linear. Sie führt in die Vergangenheit und an verschiedene Schauplätze.
Gleichzeitig öffnet der Roman eine ganze Reihe von thematischen Fenstern: Es geht um Liebe, seelische Verletzungen, Krankheit und Tod. Die griechische Philosophie und das Christentum spielen hinein, die Psychoanalyse und auch historische Ereignisse wie der Mauerfall.
Der übermächtige Vater
Zudem gibt es Parallelen zu Thomas Hürlimanns eigener Biographie. So haben etwa der Autor und Heinrich Übel denselben Geburtstag. Auch setzt sich die Romanfigur intensiv mit seinem Vater auseinander. Jener ist ein übermächtiger und unnahbarer Fabrikant, der seinen Spross einst als «Abfall» verflucht hat.
Wie autobiographisch ist diese Darstellung? Man fühlt sich an Hürlimanns Roman «Der grosse Kater» von 1998 erinnert, in dem bereits eine autoritäre Vaterfigur eine zentrale Rolle spielte. Damals entbrannte eine veritable Debatte ob der Frage, wie sehr der Vater im Roman dem realen Vater von Thomas Hürlimann nachempfunden sei – dem einstigen CVP-Bundesrat Hans Hürlimann.
Diese Diskussion dürfte sich jetzt wiederholen, zumal die erdrückende Allmacht des Vaters im aktuellen Roman um die sexuelle Dimension ergänzt und damit noch radikaler gezeichnet ist als im «Kater».
«On ne revient jamais»
Immerhin: In «Heimkehr» findet der verlorene Sohn Heinrich Übel irgendwann einen Umgang mit seinem Erzeuger. Ebenso lichtet sich der Schleier über dem Geschehen in der Unfallnacht.
Eine «Heimkehr», wie es der Romantitel andeutet, ist für Heinrich Übel dennoch nicht möglich. Er wird auch nach seiner Suche nie mehr derjenige sein, der er vor dem Unfall gewesen ist:
«Nicht die Fremde war fremd, fremd war die Heimat, die man draussen für immer verlor. Das hatten schon Odysseus, Robinson und all die anderen, die eines Tages zurückgekehrt waren, bitter erfahren müssen. On ne revient jamais. Man blieb draussen. Für immer.»
Langes Ringen
«Heimkehr» ist – nach «Vierzig Rosen» vor zwölf Jahren – Thomas Hürlimanns dritter Roman. Er ist ebenso tiefsinnig wie vielschichtig. Zwar ist er in einem sprachlich leichtfüssigen Ton gehalten. Aber man spürt, dass da ein Autor am Werk ist, der lange Zeit um den Stoff und dessen sprachlich treffende Vermittlung gerungen hat.
Tatsächlich entgleitet uns Leserinnen und Lesern bei der Lektüre regelmässig der Überblick über das Geschehen. Realistische und dabei nicht selten beklemmende Passagen wechseln ab mit grotesken Schilderungen. Immer wieder aber gelingt es, Halt zu finden – trotz aller Desorientierung, die Hürlimann treffend beschreibt.
«Heimkehr» ist ein grosses Stück Literatur. Eines, das seine Leserschaft herausfordert – aber auch reich belohnt.
Sendung: Kultur aktuell, 23.8.2018, 8.20 Uhr