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Neues Buch von Arno Geiger Leben mit der Bedrohung im Nacken

Mit dem feinfühligen Porträt seines dementen Vaters «Der alte König in seinem Exil» hat sich Arno Geiger international einen Namen gemacht. Mit «Unter der Drachenwand» legt der gebürtige Voralberger erneut ein Buch vor, das inhaltlich und formal überzeugt.

Manchmal entscheidet der Zufall über den Inhalt eines Romans. Vor über zehn Jahren geriet Arno Geiger die Korrespondenz aus einem Kinderlandverschickungsheim in die Hände; Briefe von Jugendlichen, die während des 2. Weltkrieges ein paar Wochen aus den vom Luftkampf bedrohten Städten in weniger gefährdete Gebiete evakuiert worden waren.

In diesem konkreten Fall kamen die Schulklassen nach Mondsee im Salzkammergut; diese Region sei der Luftschutzkeller Wiens gewesen, sagt der Schriftsteller.

Buchhinweis

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Arno Geiger. Unter der Drachenwand. Hanser, 2018.

Unter der Drachenwand

Neben Briefen von Mädchen fanden sich in diesem Dossier auch solche von Eltern, Behörden und Aufsichtspersonen. Das Lager trug den Namen Schwarzindien und lag direkt unter einer senkrechten Felsflanke, der sogenannten «Drachenwand».

Diese Szenerie hat Arno Geiger unmittelbar angesprochen, «denn eigentlich leben wir ja alle direkt unter der Drachenwand», stellt er fest. Und beim Lesen der vielen Dokumente habe er gleich die Atmosphäre von 1944 im Schatten des Krieges nachempfunden. Aber es sollte noch längere Zeit dauern, bis Arno Geiger wusste, wie er diesen Stoff literarisch aufarbeiten wollte.

Das Private zählt nicht

Im Mittelpunkt des Romans steht Veit Kolbe, ein 24-jähriger Soldat aus Wien, der direkt nach Schulabschluss 1939 in die Armee einrücken musste und nun schon seit 5 Jahren in der Uniform steckt. Er hadert mit seinem Schicksal, fühlt sich um seine besten Jahre betrogen und leidet unter dem Verlust jeglicher Privatsphäre. «Was im Krieg zählt, ist nur noch Masse», sagt Arno Geiger, «das Individuum spielt keine Rolle mehr.

Und genau diese Ausnahmesituation hat den Schriftsteller interessiert: «Veit Kolbe – wie auch alle anderen Figuren im Roman – werden in etwas hineingeworfen, ohne je gefragt worden zu sein; sie sind völlig fremdbestimmt und fühlen ständig die Drohung im Nacken: Was man versäumt im Leben, das ist das Leben.»

Im Schatten des Krieges

Veit Kolbe hat Glück im Unglück: Infolge einer Kriegsverletzung wird er vorübergehend zur Erholung an die Heimatfront geschickt und landet in Mondsee, wo sein Onkel Polizist ist.

Wir erleben mit ihm den Alltag auf dem Lande; wir begegnen den zum Teil auch sehr bizarren Dorfbewohnerinnen und -bewohnern, kommen in Kontakt mit einzelnen Mädchen aus den Schullagern und sind dabei, wenn sich Veit Kolbe erstmals im Leben verliebt: Margot, eine alleinerziehende Mutter aus Darmstadt, die mit einem Baby im Nachbarszimmer wohnt, wird seine Freundin.

Intensives Leben in der Gegenwart

So gesehen ist «Unter der Drachenwand» zwar ein Gesellschaftsroman aus dem Dritten Reich, aber trotzdem alles andere als ein weiteres Buch über den 2. Weltkrieg: Das Donnergrollen von der Front bildet nur die Kulisse, vor der die Geschichte spielt.

Die Niederlage der Deutschen zeichnet sich 1944 immer deutlicher ab; niemand weiss, ob es überhaupt noch ein Morgen gibt; umso intensiver leben die Menschen der Gegenwart und versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen.

Die Art und Weise, wie Arno Geiger dieses Lebensgefühl im Hier und Jetzt beschreibt, ist grosse Literatur. Vieles konnte er aus den historischen Briefen ableiten; etliche Passagen werden auch wortwörtlich zitiert; anderes hat er dazu erfunden. Indem er die Geschichte aus der Perspektive von Veit Kolbe erzählt, erhält der Text die nötige Dringlichkeit und Authentizität.

Die Kraft des Romans

Geholfen haben ihm dabei auch weitere Berichte von damaligen Zeitzeugen: «Als Schriftsteller muss ich das tun, was nur der Roman leisten kann: Nachvollziehbar machen, wie sich das Leben im unmittelbaren Moment angefühlt haben könnte.»

Alles, was nach 1945 zum Thema geschrieben sei, wisse im Grunde genommen schon, wie der Krieg ausgehen würde; der Blick zurück sei die erste perspektivische Brechung. «Ich schaue nicht zurück; sondern ich gehe in die Situation hinein, als Stellvertreter meiner Figuren. Im Gegensatz zum Historiker bin ich bei der Handlung anwesend, und zwar in jeder Sekunde», sagt Geiger.

Grosse Empathie

Und genau darin besteht die grosse Qualität dieses Romans: dass es Arno Geiger mit seinem grossen Einfühlungsvermögen und dem differenzierten Sprachgefühl gelingt, uns ein Sittengemälde jener Zeit im österreichischen Hinterland zu präsentieren, in dem es weder um Hurra-Patriotismus noch um Ideologien geht, sondern um einfache Menschen, die primär nur eine Sehnsucht haben: selber wieder Herr über ihr eigenes Schicksal zu werden.

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