- Der sechste Roman der schwedischen Autorin Sara Stridsberg erzählt von einer Vater-Tochter-Beziehung.
- Als junge Frau erinnert sich die Protagonistin Jackie an den Aufenthalt ihres Vaters in der Psychiatrie Beckomberga.
- Die Geschichte ist fiktiv, der Schauplatz real: Beckomberga galt in den 1930er-Jahren als eine der modernsten Kliniken Europas.
Nach der Trennung der Eltern organisiert sich eine Familie neu. Die Tochter Jackie ist gerade der Kindheit entwachsen, als ihr Vater Jim von zuhause auszieht. Am Telefon sagt er ihr, dass er krank sei.
«Was für eine Krankheit hast du denn?», fragt sie ihn und er antwortet: «Meine Flügel sind zu gross geworden, ich kann nicht mehr fliegen.»
«Was bedeutet das?», will das Mädchen wissen. «Ich weiss es auch nicht richtig, ich muss den Arzt fragen, wenn er kommt, aber ich werde wohl eine Weile hierbleiben», erwidert der Vater.
Fragen ohne Antworten
Sie sind ähnlich, die Dialoge, die Jackie in den folgenden Jahren mit ihrem Vater führt, wenn sie ihn in der traditionsreichen Klinik Beckomberga nahe Stockholm besucht: Nie weiss er irgendetwas mit Sicherheit.
Auf keine Frage gibt es eine klare Antwort. Das einzig Sichere scheint seine anhaltende Lebensmüdigkeit zu sein, und dass er ständig mit dem Suizid liebäugelt.
Dabei ist Jim ist eigentlich kein Kind von Traurigkeit – zumindest scheint es nicht so. Immer wieder sieht Jackie ihn bei ihren häufigen Besuchen «Hof halten» mit Patienten und Ärzten in den schönen Gartenanlagen der Klinik. Jims eigenwilliger Arzt nimmt ihn abends sogar zusammen mit anderen Patienten raus in die Stadt. Sind die da draussen denn wirklich gesünder als die sogenannten Kranken?
«Wir sind allein auf der Welt»
Lone, die Mutter, hatte Jim vor seinem Klinikaufenthalt gebeten, auszuziehen. Zu viel Alkohol, zu viel unstetes Leben – zu viel für Lone. Für Jackie bleiben zu viele unlösbare Fragen.
Aber das wird ihr erst im Rückblick klar, als sie sich viele Jahre später, als alleinerziehende Mutter, an diese Zeit erinnert. An die Gespräche mit dem Vater, seine Traurigkeit und seine Unfähigkeit, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
«Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich mich selbst und Jim, wie wir zusammengekauert ganz oben unter der Klinikglocke auf seinem fusseligen Wintermantel schlafen. Wir sind allein auf der Welt, wie wir es immer waren, allein mit seinem Unglück», heisst es an einer Stelle im Buch.
Traditionsreicher Ort
Die Ich-Erzählerin Jackie erinnert sich zugleich an Beckomberga. Die Klinik wurde 1932 gegründet und galt als eine der grössten und modernsten Kliniken Europas. Sie zeichnete sich aus durch fortschrittliche Ideen und Ideale im Umgang mit geistig und seelisch kranken Menschen. 1995 wurde Beckomberga geschlossen.
Der Nobelpreis-Jury würdig
Dass der Roman der 45-jährigen schwedischen Autorin Sara Stridsberg aus vielen einzelnen Passagen gebaut ist, lässt viel Platz für die Einsamkeit der Figuren. Berührend erzählt der Roman von der schweren Last, die die Lebenstraurigkeit eines auf sich bezogenen Vaters für ein Kind bedeutet.
Jackie schleppt sie als Erwachsene weiter durchs Leben – ohne Wut, wie es scheint, aber mit Wehmut; nicht zuletzt bereichert um die Bandbreite der menschlichen Erfahrungen in Beckomberga.
Mit ihrem sechsten Roman wurde die mehrfach preisgekrönte Roman- und Theaterautorin erneut für den renommierten schwedischen August-Literaturpreis nominiert. Ausserdem wurde sie als jüngstes Mitglied in die Schwedische Akademie, die den Nobelpreis vergibt, gewählt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 15.5.17, 16:50 Uhr.