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Filmset aus den 1930er-Jahren.
Legende: Amerikanischer Glamour trifft bei Hédi Kaddour auf Wüstenkulisse – im Bild ein Filmset aus den 1930er-Jahren. Getty Images

Panorama der 1920er-Jahre Amerikanische Küsse in arabischer Kulisse

Feudaler Maghreb, frivoles Amerika der 1920er-Jahre: Hédi Kaddour lässt in seinem neuen Roman «Die Grossmächtigen» fremde Welten aufeinanderprallen. Brillant.

Das Wichtigste in Kürze

  • Hédi Kaddours neuer Roman «Die Grossmächtigen» spielt in den 1920er-Jahren.
  • Ein junger Araber verliebt sich in eine amerikanische Schauspielerin – mit einem französischen Siedler und einer Journalistin reisen sie nach Deutschland.
  • Der Roman verblüfft mit komplexen Figuren und durch die sinnliche Schilderung seiner Schauplätze.

Eine fiktive Kleinstadt im Maghreb Anfang der 1920er-Jahre: Frauen dürfen nicht unverschleiert aus dem Haus gehen, und auf den Märkten gibt es noch immer Reste von geldlosem Tauschhandel.

In der Nähe der Stadt aber schreit ein amerikanischer Filmregisseur, der mit seiner Crew gekommen ist, um einen grossen Wüstenfilm zu drehen, so laut in seine Flüstertüte, dass es 100 Meter im Umkreis wiederhallt: «Ein bisschen Sex! Dammit!»

Der Autor

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Legende: Keystone

Hédi Kaddour ist ein französischer Autor mit tunesischen Wurzeln. Seit den 1980ern schreibt er Lyrik. 2005 erschien sein erster Roman «Waltenberg», mit dem er über Frankreich hinaus bekannt wurde. «Les Prépondérants», «Die Grossmächtigen», erschien 2015 – nun wurde er ins Deutsche übersetzt.

Plötzlich diese Freizügigkeit

Der Regisseur inszeniert eine Kussszene im künstlich erzeugten Wüstensturm mit 50 vorbeipreschenden Kamelen. Und ein 18-jähriger Sohn aus gutem arabischen Hause verliebt sich ausgerechnet in die amerikanische Hauptdarstellerin, die da filmreif einen als arabischen Sheikh verkleideten Christen küsst.

Die Amerikaner bringen Freizügigkeit, Moderne und Internationalismus in den Maghreb. Sie duzen alle, den arabischen Gemüsehändler ebenso wie den französischen General. Sie sind nicht revolutionär, haben aber überhaupt keinen Sinn für das Kolonialregime.

Ein ungleiches Quartett

Der französische Dichter und Romanautor Hédi Kaddour, Sohn eines Tunesiers und einer Französin, ist in Tunis aufgewachsen. Mit zwölf Jahren kam er nach Paris.

Kaddour interessieren kulturelle Grenzüberschreitungen. In seinem Roman «Die Grossmächtigen» lässt er verschiedene Kulturen aufeinanderprallen.

Der junge Maghrebiner und die freizügige Filmschauspielerin werden ein Paar. Sie gehen zusammen auf eine Reise nach Deutschland, begleitet von einem katholisch erzogenen französischen Siedler und einer frechen, emanzipierten französischen Journalistin.

Das ungleiche Quartett sieht mit Erstaunen, wie die Franzosen das Ruhrgebiet besetzen und sich damit brüsten, dass sie im Elsass die Besatzer, die Deutschen, vertrieben hätten. Sollte das für den jungen Maghrebiner eine Ermutigung sein, die Besatzer im eigenen Land, die Franzosen, zu vertreiben?

Im Schmelztiegel der Moderne

Die Reise geht nach Berlin, den «Schmelztiegel der Moderne». Der junge Maghrebiner verliebt sich in eine junge Jüdin. Die Amerikanerin in einen Filmregisseur, der deutlich nach den historischen Vorbildern von Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau gestaltet ist. Hier kommt nochmals eine neue Lebenswelt in den Roman: die deutsche.

Starke Frauenfiguren

Eine der interessantesten Figuren des Romans ist die junge arabische Witwe Rania. Sie verweigert die Wiederverheiratung, sie leitet mit Bravour eine grosse Farm. Erfolgreich stemmt sie sich gegen Faulheit, Gottergebenheit und Untertanengesinnung.

Buchhinweis

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Hédi Kaddour: «Die Grossmächtigen», aus dem Französischen von Grete Osterwald, Aufbau Verlag Berlin, 2017.

Mit dem französischen Siedler unterhält sie eine geheime Liebschaft. Und freundet sich mit der amerikanischen Filmschauspielerin und der französischen Journalisten an: Gemeinsam sind die drei Frauen stark.

Arabische Literatur als Schatz

«Die Grossmächtigen» ist ein brillanter Roman, intellektuell anspruchsvoll und sinnlich befriedigend. Mit Witz und konkreter Anschaulichkeit schildert er die maghrebinische Kolonialgesellschaft, die amerikanische Moderne und das brodelnde Berlin der 1920er-Jahre. Eine Fülle lebendiger, komplexer Figuren handeln auf immer wieder verblüffende Weise.

Kaddour hat seine Erzählung gespickt mit Zitaten, Sprichwörtern und frivolen Geschichten aus dem reichen Schatz der arabischen Literatur. Das ist eine Wohltat in Zeiten, in denen alles Arabische oft mit fundamentalistischem Gedankengut assoziiert wird.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 16.7.17, 11:03 Uhr

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