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Physiker Hermann Oberth Er träumte von der Mondrakete und wurde zum Nazi

Hermann Oberth war ein genialer Raketenpionier – und ein Unterstützer Hitlers. Der neue Roman von Daniel Mellem zeichnet das Bild eines zutiefst zwiespältigen Wissenschafters.

Lebenslügen halten sich bisweilen lange. Manchmal buchstäblich ein Leben lang. Zum Beispiel beim 1894 in Siebenbürgen geborenen Physiker Hermann Oberth, über den der Hamburger Autor Daniel Mellem eine Romanbiografie veröffentlicht hat.

Buchhinweis

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Daniel Mellem: «Die Erfindung des Countdowns». Dtv 2020.

Demnach war Oberth sein ganzes Leben lang getrieben vom Traum, Raketen zu bauen. Um damit Menschen ins All zu bringen. Aber auch, um eine neue Kriegswaffe zu schaffen, die schrecklicher sein würde als alles bisherige Kampfgerät.

Frieden schaffen dank Horrorwaffe

Dabei redete sich der Mann ein, ein Friedensengel zu sein: Denn erst dank seiner Rakete würde sich die Menschheit aus Furcht vor der verheerenden Zerstörungsgewalt künftig davor hüten, jemals wieder bewaffnete Konflikte zu führen.

Wenn doch. wäre das Leid auf den Schlachtfeldern immerhin stark verkürzt: «Sollen sich die Soldaten zu Millionen in den Schützengräben totschiessen? Mit Raketen ist ein Krieg viel schneller vorüber und es gibt weniger Opfer!».

Aussagen, wie diese sind Schlüsselsätze in Mellems Roman: Sie bringen die widersinnige und selbstbetrügerische Logik auf den Punkt, die es Oberth erlaubte, seine Raketenpläne unbeirrt weiterzuverfolgen.

ein schwarz-weiss Foto eines Mannes, der Raketen zusammenbaut
Legende: Schon früh träumte Herman Oberth davon, eine Rakete zu bauen, was er in den 1930er-Jahren auch tat. imago images / Everett Collection

Dies, obwohl er bereits während des Ersten Weltkriegs das Grauen des massenhaften Tötens selbst miterlebte und sein Bruder auf Seiten der Mittelmächte an der Front fiel. Und obwohl Oberth später während des Zweiten Weltkriegs auch seine beiden Kinder an den Krieg verlor.

Utopist, Tüftler, Nationalsozialist

Daniel Mellem zeigt Oberth zunächst als Utopist, der bereits als Knabe von Jules Verne fasziniert war und erste handgestrickte Raketenversuche unternahm. Später wurde er Student der Physik in Göttingen und veröffentlichte erste Raketenpläne, für die er von der Fachwelt jedoch nur Hohn und Spott erntete.

Heute gilt Oberth in der Fachwelt unbestritten als einer der Begründer der wissenschaftlichen Raketentechnik. Seine Forschungen bildeten eine wichtige Grundlage für spätere Pioniertaten – unter anderem die Mondlandungen der Amerikaner ab Ende der 1960er-Jahre.

Die ersten, welche Oberths wissenschaftliche Verdienste erkannten, waren die Nazis. Hitlers Raketeningenieur, der SS-Mann Wernher von Braun, war ein Bewunderer Oberths.

ein schwarz-weiss Foto von 2 Männern, die diskutieren
Legende: Hermann Oberth (links) und Wernher von Braun hatten viel gemeinsam. Ein Interesse: der Weltraum, eine Gesinnung: nationalsozialistisch. imago images / teutopress

Er holte ihn nach Peenemünde, wo von Braun die V2-Rakete entwickelte, welche die Deutschen schon bald auf Ziele in London oder Antwerpen abfeuerten und dort für blanken Horror sorgten.

Mellem schreibt, dass Oberth in Peenemünde zwar als Forscher im zweiten Glied geblieben sei. Dass es ihn jedoch mit Stolz erfüllt habe, bei der Entwicklung der Terrorwaffe wenigstens dabei sein zu dürfen.

Parallel dazu entwickelte Oberth zunehmend Sympathien für die Ideologie der Nazis. Selbst der verstörende Anblick der in Peenemünde eingesetzten Zwangsarbeiter brachte ihn nicht zur Besinnung: «Sie trugen Sträflingskleidung. Vermutlich kamen sie aus … einem Gefangenenlager, das südwestlich von Karlshagen lag. … Er wandte sich von der Szenerie ab.»

Wie liest sich der Roman?

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Die Romanbiografie über Hermann Oberth ist das literarische Debüt des 33-jährigen Hamburger Autors und promovierten Physikers Daniel Mellem. Als Grundlage dienen ihm ältere, zumeist beschönigende Oberth-Biografien, Briefwechsel des Wissenschafters sowie Recherche an Orten, wo Oberth lebte und wirkte.

Mellem wählt die traditionelle Form des chronologischen Erzählens: Der Roman beginnt mit Schilderungen von Oberths Kindheit in Siebenbürgen und endet in Cape Canaveral mit dem Start der Saturn-V-Mondrakete, als sich die Vision des Mondflugs erfüllt. Diese Zuspitzung auf das Ende hin erzählt Mellem in zehn Kapiteln, die – einem Countdown gleichend - in umgekehrter Reihenfolge nummeriert sind.

Der Roman überzeugt aufgrund der ihm zugrunde liegenden Sachkenntnis, der literarischen Ausgestaltung einzelner Episoden von Oberths Leben und der flüssigen Erzählweise. Leider verzichtet der Autor jedoch darauf, seine ambivalente Figur tiefergehend psychologisch zu durchleuchten.

So bleiben etwa die zu vermutenden seelischen Ursachen im Ungewissen, weshalb sich Oberth nicht davon beeindrucken liess, dass er in den Weltkriegen sowohl Bruder als auch Kinder verlor und trotzdem unbeirrt den Bau von Kampfraketen propagierte. Im Dunkeln liegen auch die genauen Gründe von Oberths Unterstützung des Nationalsozialismus, die interessanterweise weit über den Krieg hinaus anhielt.

An für dieses Leben wichtigen Punkten wie diesen hätte man sich als Leserin oder Leser mehr Tiefenschärfe gewünscht. Oder zumindest eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Ungeklärten.

Ohne Wandel bis zum Ende

Daniel Mellem begleitet Oberth über die Zeit des Kriegs hinaus: Wie er – getrieben von seinen Raketenträumen – Wernher von Braun in die USA folgte. Wie er dort am amerikanischen Raumfahrtprogramm mitarbeitete. Und wie er 1969 schliesslich die Erfüllung seines Lebenstraums erlebte: den Start der Saturn V-Rakete zum Mond.

Seine nationalsozialistische Gesinnung änderte Oberth indessen bis zu seinem Tod 1989 nicht mehr. Er wurde zwischenzeitlich gar Mitglied einer faschistischen Partei.

Zwiespältige Persönlichkeit

Daniel Mellems Roman verzichtet darauf, Hermann Oberth zu verurteilen. Vielmehr beschränkt er sich darauf, ein subtiles Bild dieses zutiefst ambivalenten Forschers zu zeichnen, dessen Leben ebenso von wissenschaftlicher Genialität geprägt war, wie auch von verstörend tiefen moralischen Abgründen.

ein alter Mann hält ein Buch
Legende: Hermann Oberth inszenierte sich auch gerne als stolzer Wissenschafter – etwa mit seinem Buch über die Raumschifffahrt. imago images / teutopress

Zudem wirft das Buch jene Frage auf, die bis heute – im Zeitalter von Gentechnik und Künstlicher Intelligenz – aktuell geblieben ist: Nämlich worin die Verantwortung besteht, die Wissenschafter für die Folgen ihrer Erfindungen zu übernehmen haben.

Sich wie Oberth mit Lebenslügen über diese zentrale Frage allen wissenschaftlichen Forschens hinwegtäuschen zu wollen, führt in die Irre. Daran gibt es spätestens nach der Lektüre dieses Romans keine Zweifel.

Sendung: Radio SRF 2, Kontext, 07.01.2021, 09:03 Uhr

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