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«PNR: La Bella Vita» Was treibt uns an, wenn alles geregelt ist?

Sie ist eine der radikalsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Sibylle Berg schreibt scharf, unbequem, hochpolitisch. Nach «GRM. Brainfuck» und «RCE» ist nun mit «PNR: La Bella Vita» der Abschluss ihrer Trilogie da.

Im ersten Band von Sibylle Bergs Roman-Trilogie, «GRM. Brainfuck» (2019), rebellieren fünf verwahrloste Jugendliche gegen eine Welt, in der Algorithmen alles kontrollieren. Da ist Wut, Hass und Gewalt. Der Sound in dem Berg schreibt, ist punkig und brutal.

Im zweiten Teil setzt Berg diese Geschichte fort. Kalt und technokratisch. Aus den fünf Jugendlichen sind erwachsene Hackerinnen und Hacker geworden. Wiedervereint wollen sie den Finanz-Eliten mit «Remote Code Executions» (deutsch: ferngesteuerte Code-Ausführungen) den Stecker ziehen. Darum der Titel «RCE» (2022).

Person mit Brille und dunklem Schal vor rotem Hintergrund.
Legende: Sibylle Bergs Roman-Trilogie ist eine kompromisslose Gesellschaftsanalyse. Die Autorin beschreibt eine nahe Zukunft, die grosse Ähnlichkeit mit der Gegenwart hat. Es geht um Überwachung, Digitalisierung, Entmenschlichung und Kapitalismus. Keystone/Georgios Kefalas

Im dritten Teil «PNR: La Bella Vita» (2025) verändert sich nun der Ton: Der Umsturz hat friedlich stattgefunden. Das weltweite Finanzsystem ist deaktiviert. Eliten sind Geschichte, niemand muss mehr arbeiten. Das World Wide Web wird nicht mehr zur Kontrolle genutzt, sondern zur Selbstorganisation. Statt Überwachung und Profitlogik: Dolce far niente. Das klingt fast nach Ferien.

Wofür steht «PNR»?

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Im Buch heisst es, man wolle der neuen Philosophie einen Titel geben, die Gesellschaft mit einer Überschrift benennen: «Piano nazionale di ripresa e resilienza, PNRR, war der Plan zum Wiederaufbau des einst wirtschaftlich halb erledigten Italiens. Kein Italiener nutzte die vier Buchstaben, sie nannten den Widerstandsplan: PNR.»

«Ein wenig anarchistische Energie, ein guter Plan, und fast über Nacht war das alternativlose System verschwunden. Implodiert, in die Knie gegangen, eingesackt und Ciao! So einfach ist das, wenn sich Menschen dafür entscheiden, das System nicht neu zu erschaffen, am Laufen zu halten, mit jedem Tag, mit ihrem Leben, ihrer Arbeit, die sie nicht mehr für sich erledigt hatten, sondern für irgendwen, um Lebensersatzstücke erwerben zu können mit dem Verkauf ihres Lebens. Nun musste etwas Neues her. Viel Spass!»

Hackerin schreibt Verfassung

Die Erzählerin ist Donatella, eine der fünf Hackerinnen, die den Systemwechsel herbeigeführt haben. Sie ist Mitte 20 und lebt in Rom. Als Archivarin des neuen Systems reist sie durch Italien und spricht mit den Menschen über das Leben nach dem Kapitalismus. Ihre Beobachtungen, Eindrücke und Gedanken zeichnet sie auf. 

Beleuchtetes historisches Gebäude bei Sonnenuntergang.
Legende: Der Wohnsitz von Hackerin Donatella, der Erzählerin in «PNR: La Bella Vita», – das Monumento Vittorio Emanuele II. Imago/imagebroker

Ihre Notizen lesen sich wie ein sehr persönlich gehaltener Verfassungsentwurf in 93 Paragrafen. In Paragraf 3 etwa denkt Donatella über das Recht auf günstigen Wohnraum nach. Sie selbst lebt für einen symbolischen Minimalbetrag in einem historischen Nationalgebäude – dem Monumento Vittorio Emanuele II. Donatella musste sich dafür nur auf eine Warteliste setzen lassen.

Utopie mit Fragezeichen

Sibylle Berg schreibt angriffig, setzt pechschwarze Pointen. Sie lädt ihren Text mit viel Hintergrundwissen auf. Doch was ungewohnt ist: In «PNR: La Bella Vita» schlägt sie einen optimistischeren Ton an. Vielleicht hat damit auch Bergs politisches Engagement zu tun. Die Schriftstellerin hat sich 2024 als Abgeordnete der deutschen Satire-Partei «Die Partei» ins Europa-Parlament wählen lassen.

Menschen in Anzug in beleuchtetem hexagonalem Tunnel mit buntem Hintergrund.
Legende: Die ersten beiden Bücher von Sibylle Bergs Roman-Trilogie wurden bereits für die Bühne adaptiert, hier die Kulisse von «Remote Code Execution» des Berliner Ensembles. Imago/Martin Müller

Doch überzeugt Sibylle Bergs neuer Roman wirklich? Erst spät. Über 300 Seiten lang wirkt die Utopie wie ein Sozialismus-Manifest. Grundeinkommen, Dreieinhalb-Tage-Woche, keine Herrschaft, nur geteilte Verantwortung.

Aber dann passiert etwas und am Ende gewinnt das Buch an Tiefe. Nach einem einschneidenden Erlebnis denkt Bergs Protagonistin Donatella über Endlichkeit, Liebe und Gemeinschaft nach. Und die entscheidende Frage stellt sich beim Lesen: Was treibt uns an, wenn alles geregelt ist? Wenn es keine Konflikte, keine unterschiedlichen Meinungen mehr gibt? Was wäre dann der Sinn des Lebens? Hier tritt Bergs Utopie endlich aus der Theorie ins Leben.

Buchhinweis

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Sibylle Berg: «PNR: La Bella Vita». Kiepenheuer & Witsch, 2025.

Radio SRF2 Kultur, Kultur-Aktualität, 9.10.2025, 8:06 Uhr.

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