Der Roman «22 Bahnen» ist vor zwei Jahren erschienen. Im Freibad, auf Parkbänken, im Bus – überall halten ihn Menschen seitdem in der Hand. Auch der Fortsetzungsroman «Windstärke 17» ist ein Bestseller. In diesen Tagen kommt Caroline Wahls drittes Buch «Die Assistentin» auf den Markt. Ab September ist ihr Debüt auf der Kinoleinwand zu sehen.
Exzellente Unterhaltung
Die Autorin und ihre Bücher sind längst ein Gegenwartsphänomen. Wahls Lesungen sind regelmässig ausverkauft. In Podcasts und Talkshows, auf Instagram – man hört ihr gerne zu. Der Hype um ihre Person, ihren Schreibstil und ihre niedergeschriebenen Emotionen hält an. Dabei erhitzt ihr Erfolg auch die Gemüter – vor allem im Literaturbetrieb.
In der Rezeption ihrer Bücher zeigt sich ein spannender Zwiespalt. Caroline Wahl versteht sich selbst als eine Autorin der Hochliteratur. Nach der Verkündung, wer alles für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert ist, beklagt sie sich auf Instagram, dass sie nicht auf der Liste steht.
Die Stammbesetzung des klassischen Feuilletons begegnet ihr eher reserviert. Denn: Sie bespielt professionell und klug einen unterhaltungsliterarischen Markt, sagt Christine Lötscher, Professorin für populäre Literatur und Medien an der Universität Zürich. Das geschieht auf mehreren Ebenen:
Die Erzählung: In ihren ersten zwei Romanen leiden die Schwestern Tilda und Ida unter der Alkoholkrankheit der Mutter, die später stirbt. Trotz allem suchen sie das grosse Glück. «Es sind kleine Welten, die nicht so sehr mit den Grossen verflochten sind – so gibt es immer Licht am Ende des Tunnels», erklärt Lötscher. Diesen Wunsch nach einem Happy End nimmt Wahl sehr ernst. Existenzielle Erfahrungen treiben die Geschichten voran – ohne eine Spur von Selbstironie.
Die Figuren: Tilda und Ida zeigen sich kühl und verletzlich zugleich. Das berührt viele Leserinnen. Andere Leser schreiben auf Blogs, dass ihnen eine psychologische Tiefe fehlt. Tildas Schwarm Viktor ist vielen zu traumpirnzenhaft, die Mutter zu wenig greifbar. «Die Figuren sind aus literarischen Genres geboren», sagt Lötscher. «Ihre Gefühle sind eher schematisch, wodurch man sich gut positionieren und auf sie beziehen kann.»
Der Stil: Keine Frage, die Bücher sind gut geschrieben. Wahls Sprache fliesst, ist klar und direkt. Der Rhythmus lebt von Wiederholungen und kammerspielartigen Dialogen. Er bohrt sich ein. Ihre Sätze sind oft unmittelbare Gedanken, beschreiben Gefühle und Alltagssituationen, wie man sie der besten Freundin erzählt.
Die Selbstinszenierung: «Caroline Wahl stylt sich als Gesamtkunstwerk», sagt Lötscher. Auf Instagram folgen ihr knapp 40'000 Menschen. Fast täglich postet sie ein Bild einer gelben Leiter, die ins Wasser des Kieler Hafenbeckens führt. Sie schreibt über Schmuck und Kleidung, ihr Cabrio, das neue Schriftstellerinnen-Dasein – sie sagt, was sie denkt. Auch hier: Es fliesst aus ihr heraus.
Marke Caroline Wahl
Das Caroline-Wahl-Phänomen kommt doppeldeutig daher. Es zeigt sich sowohl bei ihren Figuren als auch bei ihr selbst: «Caroline Wahl verkörpert einfach sich selbst, ohne sich dafür zu rechtfertigen oder das gross zu hinterfragen», skizziert Lötscher eine These.
Die Frauen in den Büchern fühlen viel, schreien in den Wind und retten sich in romantische, kuschelige Situationen. Auffällig ist, dass die Beschreibungen kaum unangenehm berühren, sondern etwas Fabelhaftes mitbringen. In das Märchenhafte flüchtet man sich gerne hinein. Die Figuren und ihre Emotionen – sie entstehen einfach, das zumindest behauptet die Autorin. «Der Mensch steht mit seinen Gefühlen im Mittelpunkt und das völlig unhinterfragt», sagt Lötscher.
Wahls Geschichten kommen ohne Foucault-Zitate oder Therapiesprache aus. Ganz im Gegensatz zu den derzeit auch beliebten autofiktionalen Sachbüchern und Romanen. In queeren Erzählungen geht es beispielsweise oft darum: Was ist eigentlich ein Subjekt? Und überhaupt die ganzen Fragen nach Handlungsmacht: Wer spricht hier und wieso? Das scheint Wahl nicht zu interessieren.
Die selbstverständlichen Schicksale der Figuren berühren und geben dennoch zu grübeln. Die prekäre Situation der Schwestern könne man als Auseinandersetzung mit Klasse lesen, meint Lötscher. Auf Booktok und Bookstagram besprechen Nutzende das Verhalten der Schwestern. Zu manipulativ! Feinfühlig! Kindliche Zuversicht! Hier entsteht durchaus ein «Psychodiskurs», sagt Lötscher. Doch alles kann, nichts muss.
Erfolgreich authentisch
Auch die Autorin Caroline Wahl bleibt gerne bei sich. Anstatt sich in die üblichen Kulturkampf-Themen einzumischen oder mit Theorievokabular zu schmücken, geht es um ihre Befindlichkeiten. Das hat etwas Kindliches. Im Podcast «Hotel Matze» fragt sie der Host, ob sie sich mehr als Frau oder Mädchen fühlt. Ihre Antwort: «Das ist mir egal, ich bin einfach ein Mädchen, der versucht, lustig zu sein.» Man glaubt ihr das sofort.
Für diesen erfrischenden Output möchte sie etwas bekommen – Ruhm, Ehre und natürlich Geld. Im erwähnten Podcast wundert sie sich zwar, dass Journalisten plötzlich ihre Social-Media-Posts analysieren. Doch vor allem amüsiert sie sich, denn sie kennt das Spiel mit der Öffentlichkeit mittlerweile richtig gut.
Bemerkenswert ist, dass sie so den Literaturbetrieb auf den Prüfstand stellt. Wahl benennt seine inhärenten Statuskämpfe – ein ständiges Ringen zwischen Idealismus und Prekarisierung – indem sie sie nicht benennt. Schliesslich wollen alle relevante Bücher schreiben und damit reich werden. Der Durchbruch gelingt den wenigsten. «Sie sagt etwas Kluges über den Literaturbetrieb, nicht in dem sie kritisch analysiert, sondern anhand ihrer Person», sagt Lötscher.
Immer mehr Popphänomene in der Literatur
Ist es am Ende nicht ein bisschen wie bei Taylor Swift? Womöglich ist der Vergleich vermessen, aber Wahl scheint um ihre Popstar-Allüren zu wissen. Auf Booktok und Co. werden ihre Bücher wie Popsongs besprochen und gefeiert. Neben New Adult und Dark-Romance-Büchern sind auch Wahls Romane Tiktok-Bestseller: Sie pflegt wie viele andere junge Autorinnen eine enge Beziehung zur Leserschaft, indem sie ihren (Schreib-)Alltag unterhaltsam dokumentiert. Und sie geht auf Tour. 48 Lesungen kündigte sie zuletzt mit ihrem neuen Roman «Die Assistentin» in Deutschland, Österreich und der Schweiz an.
Vielleicht muss dieser Zeitgeist langsam auch in die Kritik einsickern. Vor allem die deutschsprachige Literaturkritik begegne oft allem, was sich gut verkaufen lasse, erstmal kritisch, sagt Lötscher. Aber die Logiken der bisherigen Rezeption funktionieren hier nicht mehr. «Caroline Wahl navigiert in dieser Zone zwischen guter Unterhaltungsliteratur und Belletristik.» Die Autorin macht das nicht unbedingt bewusst, aber definitiv schreiben sich ihre Texte darin ein.
Vielleicht kommt im Literaturbetrieb auch bald das an, was die Musikbranche längst kapiert hat: Es geht hier um mehr als um Literaturbewertung. Die Marke Caroline Wahl besitzt eine kulturelle Kraft, die Menschen inspiriert und um sich vereint. Und das in einer Welt, in der alles auseinanderbrechen zu scheint.