Das Buch «Der Idiot des 21. Jahrhunderts» ist das Ergebnis einer Dichterbegegnung. Michael Kleeberg war einer von elf Autorinnen und Autoren, die von 2002 bis 2007 am Projekt «West-östlicher Divan» teilnahmen, um sich mit der literarischen Welt des muslimischen Nahen Ostens vertraut zu machen.
Kultureller Austausch statt Abschottung
Als Antwort auf die Anschläge vom 11. September 2001 hatte das Wissenschaftskolleg Berlin zusammen mit mehreren Kooperationspartnern diesen Kulturaustausch organisiert: Man besuchte einander für längere Zeit, ging zusammen auf Lesetournee und liess sich ein auf die fremde Kultur.
Die Reise nach Beirut zum libanesischen Lyriker Abbas Beydoun ist für Michael Kleeberg «ein lebensveränderndes Ereignis» gewesen. Seither hat er auch Syrien (noch vor Ausbruch des Kriegs), Ägypten und den Iran bereist. Die Freundschaft mit Beydoun hält bis heute an.
Von Goethe inspirierte Form
«Der Idiot des 21. Jahrhunderts» ist kein Roman. Die Gattungsbezeichnung lautet: «ein Divan, versammelt von Michael Kleeberg». Kleeberg nutzt diese offenste literarische Form, weil sich darin alles unterbringen lässt.
Wie Goethes «Der west-östliche Divan» ist auch diese Sammlung in zwölf «Bücher» aufgeteilt. Goethe hatte den multikulturellen Dialog bekanntlich im Austausch mit dem persischen Dichter Hafis aus dem 14. Jahrhundert erprobt, seinem «geistigen Zwilling».
Dialog zwischen Kulturen und Werken
Auch bei Kleebergs Divan handelt es sich um ein dialogisch gedachtes Werk. Zum einen befindet es sich im Dialog mit weiteren Werken der Weltliteratur: Dostojewskis «Der Idiot» steht titelgebend im Zentrum.
«Du warst eben immer schon der Unverfügbare. Nicht zu rekrutieren, nicht zu instrumentalisieren, nicht zurechtzustutzen», erklärt Bernhard dem modernen Idioten Hermann – und vor allem uns – sein eigenes Wesen.
Wie Dostojewskis Fürst Myschkin ist auch Hermann eine ambivalente Figur: Die Naivität ist die Kehrseite einer radikalen Menschlichkeit. Letztlich ist es die Frage nach unserer Humanität, die dieses disparate Buch zusammenhält.
Allgegenwärtiger Gutmensch
Das Wort Gutmensch kommt im Buch nicht vor. Doch man kann nicht nicht an dieses Wort denken, wenn man lesend die Gespräche der Tischrunde belauscht.
In Mühlheim bei Frankfurt wird über den Islam, die Not der Flüchtlinge, die Angst vor dem Terror, die deutsche Vergangenheit, das richtige Leben im Falschen und die Gefahr jeder Utopie diskutiert. Man philosophiert und wirft einander Gedichte zu, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
Michael Kleeberg benutzt seine Figuren als Sprachrohr für alles, was den Westen seit dem 11. September bewegt, und so dient diese multikulturelle Runde – die iranische Musikerin Maryam und der syrische Dichter Kadmos gehören dazu – als Rahmengespräch für die heterogene, ausufernde Textsammlung.
Propaganda, Terror und Revolution
Dann zwischen der biederen Behaglichkeit der hochgebildeten Tischrunde lesen wir Blogs von IS-Propagandistinnen, Porträts von Terroropfern («Fünf Grabsteine»), eine packende Reportage über die islamische Revolution im Iran und Maryams Flucht vor dieser Revolution.
Wir erleben mit, wie sich westliche Geschäftsmänner in Beirut benehmen, Bürgerkrieg hin oder her. Und wir tauchen ein in den Horror dieses Bürgerkriegs für diejenigen, die sich der Gewalt nicht entziehen können.
Ein- und Auswanderungsland Deutschland
Die von den Nationalsozialisten verfolgten Juden kommen ebenso vor wie die sieben Millionen Wirtschaftsflüchtlinge, die im 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderten.
Zu den eindrücklichsten Kapiteln gehört der Dialog von Gottfried, der 1845 aus Hauenstein in der Pfalz nach New York emigrierte, mit Amir, der 2015 aus Syrien nach Deutschland geflohen ist.
«Was für euch damals Amerika schien, das Paradies, das ist heute für uns Deutschland», sagt Amir in diesem inszenierten Austausch, in dem die beiden sich schliesslich bei einer «Konkurrenz des Elends» ertappen.
Vielstimmiges Gespräch
Die Lektüre dieses Divans ist anstrengend. Bisweilen fühlt man sich von diesem sehr gelehrten Autor belehrt, und manchmal rümpft man die Nase über den Kitsch, denn zum Stilgemisch gehört auch eine schwer parfümierte orientalisierende Blumigkeit.
Doch die Anstrengung lohnt sich: Das Buch ist ein brisanter Beitrag zu dem vielstimmigen Gespräch, das unsere Gesellschaft derzeit mit sich selbst führt.