Man müsse den Willen des Autors auch nach dessen Tod respektieren, sagt Elena Poniatowska. Die mexikanische Autorin und langjährige Freundin des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez spricht sich gegen die postume Veröffentlichung des Kurzromans «Wir sehen uns im August» aus. «Man sollte so viele Jahre nach dem Tod von García Márquez nicht versuchen, ihn wie eine verdorrte Orange auszupressen.»
«Dieser Roman gehört genauso wie Kafkas Werke der Nachwelt», widerspricht Dasso Saldívar, der kolumbianische Biograf von García Márquez. «Ich kann also nicht erkennen, dass die Veröffentlichung unethisch wäre.»
Einfluss von Musik und Gin
Beim Lesen des Romans vergisst man die Diskussion um sein Erscheinen und ist einfach nur überwältigt von der berührenden, wunderbar atmosphärisch geschriebenen Geschichte.
An jedem 16. August, dem Todestag ihrer Mutter, fährt die Lehrerin Ana Magdalena Bach mit der Fähre vom Festland zu einer karibischen Insel, um auf dem dortigen Friedhof das Grab zu besuchen. Danach verbringt sie die Nacht in einem Hotel der Insel.
In dem Jahr, in dem sie 46 ist, fällt ihr in der Hotelbar mit Livemusik ein Mann auf. Sie bestellt sich Gin. «Die Welt veränderte sich mit dem ersten Schluck», heisst es im Roman. «Sie fühlte sich frech, fröhlich, zu allem fähig und verschönt durch die heilige Mischung von Musik und Gin.»
Ehebruch auf der Insel
Ana Magdalena, die bei ihrer Heirat noch Jungfrau war und ihrem Ehemann nie untreu gewesen ist, nimmt den Fremden mit auf ihr Zimmer. Von da an ist sie eine andere.
Ihr Eheglück sieht sie nun kritisch als zu konventionell und beschliesst, ab sofort jeden August nicht nur das Grab ihrer Mutter zu besuchen, sondern auch mit einem jeweils neuen Mann zu schlafen.
Als García Márquez schon an den Folgen der Demenz litt, brach er die Arbeit am Roman frustriert ab und sagte, das Manuskript solle vernichtet werden. Dabei war es schon nahezu vollendet, wie sein Sohn Gonzalo García anmerkt: «Wir sind nicht erzogen worden, um Bücher zu zerstören. Die Anweisung unseres Vaters hat also unserer Intuition widersprochen», rechtfertigt er die Veröffentlichung. «Vielleicht hat es ihm seine Krankheit nicht mehr erlaubt, die Vorzüge dieses Textes zu erkennen.»
Es ist in der Tat eine atemberaubend gut geschriebene, sehr literarische Geschichte über Liebe, Untreue und den Bruch von Konventionen. Das faszinierende Psychogramm einer Frau, die erst dadurch, dass sie ihren Mann betrügt, frei wird und einen klaren Blick auf sich und die Welt erlangt.
Einer der besten Texte von García Márquez
Dagmar Ploetz bewahrt im Deutschen sehr schön die Musikalität des spanischen Originals in diesem überhaupt musikalischen Buch. Ana Magdalena Bach trägt nicht zufällig den Namen von Johann Sebastian Bachs zweiter Ehefrau. Nicht zuletzt durch den Einfluss der Musik ist sie einmal im Jahr auf der Insel ihrem Mann untreu.
Nach der Lektüre ist man García Márquez' Söhnen dankbar, dass sie, wie sie selbst schreiben, diesen «Verrat» an ihrem Vater begangen haben. Oder wie es Dasso Saldívar, der Biograf von García Márquez, formuliert: «Dieser Roman ist einer der besten Texte von García Márquez. Er ist wie eine goldene Klammer, mit der er sein umfangreiches und vielseitiges literarisches Werk abschliessen wollte.»
Ein kleines Meisterwerk mit einem spektakulären Ende.