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Streit um Justizreform: Israel ist im Aufruhr
Aus Rendez-vous vom 27.03.2023. Bild: KEYSTONE/AP Photo/Ohad Zwigenberg
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Proteste in Israel Israels linksliberale Kunstbubble ist aufgewacht

Seit Monaten protestieren Hunderttausende gegen Israels Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu und gegen die geplante Justizreform. Die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen spricht im Interview über Faschismus und israelische Hilfsbereitschaft.

Ayelet Gundar-Goshen

Ayelet Gundar-Goshen

Autorin

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Ayelet Gundar-Goshen ist eine israelische Schriftstellerin, Drehbuchautorin und klinische Psychologin.

Auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung SIAF sprach sie am 4. April an der Universität Zürich über Schuld und ihre Auswirkung auf die Gesellschaft. Gundar-Goshens Romane sind in 13 Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv.

SRF: Ayelet Gundar-Goshen, Sie sind soeben in Zürich angekommen. Wie geht es Ihnen?

Ayelet Gundar-Goshen: Ich habe das Gefühl, dass ich das erste Mal seit Monaten wieder frei atmen kann. Gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich jetzt wegfahre. Israel, besonders Tel Aviv, wo ich wohne, befindet sich seit Monaten in einem sehr angespannten Zustand.

Man hat das Gefühl, das ganze Land ist in Aufruhr.

Das ist tatsächlich so. Nicht nur in Tel Aviv, das traditionell eher liberal ist, gehen Hunderttausende auf die Strasse. Sie tun es auch in Haifa, Beersheba und Jerusalem. Es ist sehr wichtig, dass das geschieht.

Ich hoffe, dass diese Kreativität, etwas Neues zu schaffen über den Drang, Dinge zu zerstören, siegen wird.

Israel hat keine geschriebene Verfassung, das Parlament hat nur eine Kammer mit gerade mal 60 Abgeordneten, und die Regierung verfügt über relativ viel Macht.

Der Supreme Court ist die einzige Institution, die Angriffe gegen Menschenrechte verhindern kann. Er garantiert gleiche Rechte für Mann und Frau, für LGBTIQ-Menschen. Er lässt illegal errichtete Siedlungen evakuieren und abreissen.

Könnte diese Justizreform der Anfang vom Ende von Israel, wie wir es kennen, bedeuten?

Als es letzte Woche hiess, dass Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir eine Privatarmee erhalten soll, weil die Polizei nicht hart genug gegen Demonstranten vorgeht, bekam ich Angst. Das ist Faschismus. Das wird nun nicht umgesetzt, aber was einmal gedacht ist, bleibt in der Welt.

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Es ist eine Zeit der Veränderung. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich, dass Leute um mich herum sind, die ich als Brüder und Schwestern bezeichnen würde. Das ist eine enorm starke Kraft. Ich hoffe, dass diese Kreativität, etwas Neues zu schaffen über den Drang, Dinge zu zerstören, siegen wird.

Die Region ist gespalten: Die Palästinenser leben nicht nur im Westjordanland und in Gaza, sie machen auch in Israel rund 20 Prozent der Bevölkerung aus. Auch spielt es innerhalb der jüdischen Gemeinschaft eine grosse Rolle, woher die Familie ursprünglich eingewandert ist.

Israeli sind harsch zueinander, sie bekämpfen sich, sie schreien sich an. Aber wenn jemand wirklich Hilfe braucht, den Bus verpasst, einen Herzinfarkt erleidet oder sein Auto steckenbleibt, dann sind sie sehr hilfsbereit. Auch gegenüber Arabern, obwohl sie von vielen jüdischen Israeli gehasst werden.

Wir in der linksliberalen Kunstbubble haben uns daran gewöhnt, die Politik zu verdrängen.

In ihrem neusten Buch «Wo der Wolf lauert» emigriert eine israelische Familie in die USA. Ist Wegziehen eine Option für Sie?

Ich mache mir selbstverständlich Sorgen. Aber ich will nicht weg. Meine Grosseltern haben dafür gekämpft, dass dieses Land überhaupt existieren darf. Ich will auch, dass meine drei Kinder in Israel aufwachsen können.

Was gehen Sie an, wenn Sie nächste Woche wieder zurückfahren?

Wir, die wir in der linksliberalen Kunstbubble leben, haben uns daran gewöhnt, die Politik und ihre unappetitlichen Begleiterscheinungen wie Korruption zu verdrängen. Man kann prima leben in Tel Aviv, es gibt wahnsinnig gutes Essen, innovatives Theater, eine kreative Kunstszene, einen Strand. Es ist ein sehr entspanntes Leben für die, die es sich leisten können.

Nun ist es das erste Mal, dass eine Gemeinsamkeit entsteht, dass wir kapiert haben, dass wir auf die Strasse gehen können und müssen, wenn sich etwas ändern soll. Daran werden wir weiterarbeiten.

Das Gespräch führte Christian Walther.

SRF 4, Rendez-vous, 27.03.2023, 12:30 Uhr.;

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