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Literatur im Gespräch Reportagen aus dem Rotlichtmilieu – Leselust oder Frust?

Schneider gegen Schneider: Die beiden Literaturkritiker diskutieren über Nora Bossongs neues Buch «Rotlicht».

Die deutsche Autorin Nora Bossong nimmt ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Reportage durch das Rotlichtmilieu. Es ist ein Blick auf eine Seite unserer Gesellschaft, die mit Scham und Schmutz behaftet ist. Die Autorin besucht Pornokinos, Bordelle, Swinger-Clubs, lässt sich auf eine Tantra-Massage ein und spricht mit Prostituierten über ihre Arbeit.

Soll man das Buch lesen?

Esther Schneider: Nein. Das Thema hat mich zwar interessiert. Auch die Versuchsanlage: Eine Frau, die hinter die Fassade des Rotlichtmilieus schaut – das finde ich packend.

Esther Schneider
Legende: Die SRF-Literaturredaktorin Esther Schneider. SRF / Oscar Alessio

Mich stört aber, dass die Autorin über das Ganze gesehen ein klischiertes Männer-Frauen-Bild hat. Zugespitzt gesagt: Die Männer sind böse, weil sie Sex kaufen, die Frauen sind Opfer, weil sie sich nur aus Not prostituieren. Aber so einfach ist es nicht.

Mir fehlen die Zwischentöne. Da liest man besser «Elementarteilchen» von Michel Houellebecq. Er schildert wesentlich empathischer und differenzierter was im Milieu abgeht.

Felix Schneider: Man(n) sollte das Buch lesen. Er erlebt, was er vielleicht gar nicht oder nur ungefähr wusste: Dass der Bereich Pornographie eine totale Männlichkeitsdomäne ist. Sosehr, dass Männer an manchen Orten eher Machtlust als Sex zu geniessen scheinen.

Felix Schneider
Legende: Der SRF-Literaturredaktor Felix Schneider. SRF

Eine Frau als aktive, bezahlende Kundin wäre im Pornogeschäft eine Tabuverletzung. Frau hat den männlichen Phantasien zu dienen.

Bossong sieht Männer im Pornobereich als Mächtige und Gewinnende auf der ganzen Linie. Dass Männer da ihre Lust jederzeit realisieren können – im Unterschied zu Frauen – ist eine notwendige kritische Beobachtung, keine moralische Voreinstellung.

Mit welcher Haltung recherchiert Nora Bossong?

Esther Schneider: Nora Bossong sagt am Anfang: «Ich bin hier, weil ich etwas über Lust erfahren möchte, über eine bestimmte Spielart von ihr und darüber, was sie mit uns macht.»

Nora Bossong

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Legende: Keystone

Die Autorin wurde 1982 in Bremen geboren. Sie studierte Philosophie und Komparatistik in Berlin, Leipzig und Rom. Nora Bossong wurde unter anderem mit dem Peter-Huchel-Preis, dem Kunstpreis Berlin und dem Roswitha-Preis ausgezeichnet.

Ich habe also erwartet, dass sie offen und neugierig auf Entdeckungsreise geht, aber das tut sie nicht.

Sie geht mit Vorurteilen, mit einer gewissen moralischen Entrüstung ins Milieu. Über Lust erfährt man wenig. Ja, ihr Bericht kippt gelegentlich sogar in Kritik an der Lust. Ich habe mich gefragt, was sie damit bezweckt?

Felix Schneider: Nora Bossong geht der Frage nach, was aus dem grossen Aufklärungsprojekt «Befreiung der Sexualität und Sinnlichkeit» geworden ist. Sie vermisst in der pornographischen Befriedigung von Sexualität Leidenschaften und Gefühle.

Bossong geht davon aus, dass Sexualität etwas sehr Individuelles ist und stellt fest, was Kommerzialisierung der Sexualität bedeutet: Standardisierung, Ent-Individualisierung, Ent-Spontaneisierung, Ent-Zauberung, Ent-Spassung – und, oft genug, Tristesse.

Wie schildert sie ihre eigenen Erfahrungen?

Esther Schneider: In einem Kapitel geht Nora Bossong auf die Suche nach der weiblichen Lust und landet in einem Tantra-Massagesalon. Was sie dort Während der Massage erlebt und was sie dabei empfindet, darüber schweigt sie sich allerdings aus. Auch der angedeutete Dreier in einem Wohnzimmer-Bordell endet an der Bettkante.

Felix Schneider: Die Schilderungen sind unvollständig. Die negativen Erfahrungen, ihr Entsetzen über die Kommerzialisierung der Sexualität, sind sehr präsent. Ihre positiven Erfahrungen blendet sie aus.

Was macht das Buch mit mir als LeserIn?

Esther Schneider: Es lässt mich mehrheitlich kalt. Ich kenne das Rotlichtmilieu nicht. Ich weiss nur das, was ich in den Medien und der Literatur darüber lese.

Buchhinweis

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Nora Bossong: «Rotlicht», Hanser 2017.

Auch nach der Lektüre von «Rotlicht» bin ich nicht viel schlauer. Der einzig spannende und aufschlussreiche Moment ist für mich das Gespräch mit den beiden bulgarischen Prostituierten.

Da hat die Autorin ohne Vorurteil einfach zugehört und die richtigen Fragen gestellt. Das ist stark. Und da erfahre ich, wie diese Frauen arbeiten, wie sie denken und was sie für Praktiken anbieten.

Felix Schneider: Ich – männlich, 69 – bin kein Pornokonsument. Das ist auch – nicht nur, aber auch – eine Klassenfrage. Als gebildetes, wohlsituiertes Mittelstandsindividuum befriedige ich meine sexuelle Schau- und Erlebnislust im Kunstmuseum, in der Literatur oder in der sogenannten Wirklichkeit.

Durch die Lektüre von Bossong ist mir das Pornogeschäft näher gekommen, vieles wusste ich nicht. Der Einblick in diese Welt hat mich erstaunt. Mit diesem Erstaunen wäre auch ich im Verdacht moralisierender Prüdheit.

Sendung: Radio SRF Zwei, Kontext, 27.7.2017, 9 Uhr

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