Die Geschichte ist so bestechend wie einfach: Ein Schriftsteller, der durchaus Ähnlichkeiten mit dem tatsächlichen Autor dieses Buches hat, erhält den Auftrag, das Leben der 100-jährigen Architektin Anouk Perlemann-Jacob zu beschreiben. Im Zentrum steht eine Anekdote rund um das sogenannte «Philosophenschiff».
Eine wahre Geschichte
Die Anekdote ist tatsächlich so passiert. 1922 wurde der letzte Rest der russischen Intelligenzija auf mehreren Dampfern aus dem revolutionären Russland deportiert: über die Ostsee nach Deutschland oder über das Schwarze Meer in die Türkei. Ein Akt der Humanität, wie der Organisator der Aktion Leo Trotzki zynisch bemerkte. Man hätte diese Leute ja sonst erschiessen müssen. Intellektuelle verjagen Intellektuelle.
Auch Anouk Perlemann-Jacob ist auf einem dieser Schiffe. Sie ist jung, erst 14 Jahre alt, und interessiert sich mehr für ihren erwachenden Körper als für Revolution und Ideologie. Ganz im Gegensatz zu ihren Eltern, die in der Revolution alles verloren haben und sich später im sicheren Berlin sogar das Leben nehmen.
Schifffahrt mit Lenin und Stalin
Anouk ist mutig und lebendig, Dies zeigt sich etwas, als das Schiff plötzlich hält und fünf Tage lang stillsteht. Während die Erwachsenen sich bereits fragen, ob dies als Zeichen zu deuten sei, dass man jetzt doch noch erschossen werde, schleicht sich Anouk auf Deck der Ersten Klasse. Dort findet sie den Grund des langen Halts: Ein neuer Passagier ist an Bord, ein sterbenskranker Mann im Rollstuhl.
Der Mann ist Lenin. Ausgerechnet jener Mann also der der Grund dafür ist, dass Anouk und ihre Eltern aus Russland ausgewiesen werden. Er sitzt nun selbst auf dem Philosophenschiff und ahnt vielleicht, dass auch seine Zeit vorbei ist. Denn schon hält das Schiff ein zweites Mal und ein weiterer Passagier steigt zu: Lenins Nachfolger Stalin. Dass auch dessen Ansichten durchaus gefährlich waren, ist hinlänglich bekannt.
Eine clevere Parabel
Michael Köhlmeier gelingt mit dieser cleveren und gewitzt erzählten Geschichte eine Parabel auf den linken politischen Terror. Er bleibt damit aber nicht bei der Russischen Revolution und den Jahren danach, sondern spannt den Bogen bis zu den Maoisten in der Bundesrepublik der 70er-Jahre, die mindestens so ideologisch waren wie ihre Vorbilder aus der Revolution.
Mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass es in der Bundesrepublik der 70er-Jahre nie wirklich um die Revolution ging. Sie war vielmehr ein Spiel für Leute, die darunter litten, in einer Zeit ohne richtige Katastrophen leben zu müssen. Wie langweilig für junge Revolutionäre!
Aktueller Bezug
Heute ist wieder eine ideologisierte Zeit. Nur, dass die Katastrophen wieder näher sind. In Europa ist Krieg. Die Demokratien sind unter Druck, die wirtschaftliche Situation ist beängstigend. Daran denkt man mit Schaudern, wenn man dieses Buch liest.
«Das Philosophenschiff» von Michael Köhlmeier ist ein brillant geschriebener Roman über die Früchte der Ideologie, die der Autor als «bitter, giftig und tödlich» bezeichnet.
Der Roman ist ein Meisterwerk der Erzählkunst, in dem Realität und Fiktion auf gekonnte Weise miteinander verwoben werden – spannend, tiefgründig und humorvoll zugleich. Und wie gesagt: brandaktuell.