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Roman «Gym» von Verena Kessler Bizeps, Battle, Breakdown – im Schmerzpalast Fitnessstudio

Die deutsche Autorin Verena Kessler begibt sich im Roman «Gym» auf das literarisch unerforschte Gelände einer Muckibude – und lässt Wahn und Wirklichkeit zusammenkrachen.

Ja, sie gehe selbst auch ins Gym, sagt Verena Kessler. Ihre Aussage gleicht einem Geständnis: Die mit Hanteln, Kraftmaschinen und Cardio-Geräten ausgestatteten Tempel der Selbstoptimierung liegen gemeinhin eher ausserhalb der Literatur-Bubble.

Frau mit rotem Oberteil auf Sportbahn, Porträt
Legende: Vom vielen Schreiben bekam Autorin Verena Kessler Rückenschmerzen. Darum geht sie jetzt ins Gym. Jacintha Nolte

«Gym» ist im deutschsprachigen Raum denn auch der erste Roman, der nahezu vollständig im Gym spielt. Dies, obwohl sich diese Spiegelpaläste der Eitelkeit kontinuierlich vermehren. Und die Zahl der Fitnessabos steigt und steigt. In der Schweiz liegt die Quote bei über 15 Prozent der Wohnbevölkerung.

Sie habe sich, betont Verena Kessler, nicht etwa wegen Bildern von perfekt durchtrainierten Körpern in ihrem Insta-Feed für den Abokauf entschieden. Sondern wegen Rückenschmerzen vom vielen Schreiben.

Die Idee zum neuen Roman sei ihr im Fitnessstudio gekommen, zwischen zwei Sätzen an der Abduktoren-/Adduktoren-Maschine: «Das Gym stellt eine abgeschlossene Welt dar, die von spannenden Menschen bevölkert wird.»

Das Innenleben des Gyms

Ihr Buch erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in einem fiktiven Studio als Helferin an der Bar arbeitet. Irgendwann beginnt sie selbst zu trainieren und entwickelt dabei eine Obsession, die in Wahn ausartet – und in Gewalt.

Frau hebt Hanteln im Fitnessstudio.
Legende: Hartes Training bis hin zu perfekt definierten Muskelpaketen: Die Protagonistin in Verena Kesslers «Gym» geht für ihre (Fitness-)Ziele ans Äusserste und verfällt in einen heillosen Muskelwahn. (Symbolbild) Getty Images/LordHenriVoton

Die Radikalisierung verflicht Verena Kessler geschickt mit Schilderungen des Innenlebens des Gyms. Dabei beweist die Autorin ihre Gabe zur präzisen Beobachtung. Und zur leichtfüssig-ironischen Schilderung.

Die Routine

So kommen morgens als erste stets die sogenannten «High-Performer» zum Training, «junge Männer, deren Kaumuskeln sich deutlich abzeichnen». Sie sind mit Apple-Watches und Airpods bewehrt. Zwischen den Sätzen bestätigen sie erste Termine und geben Feedback – «danke dir, Steffi, das wär alles, bis gleich».

Gegen zehn schlägt die Stunde der Rentnerinnen und Rentner. Sie spazieren gemächlich auf dem Laufband. Überraschen jedoch bisweilen – etwa mit einer ungeahnten Serie von Klimmzügen.

Mann hebt Gewichte im Fitnessstudio.
Legende: Das Fitnessstudio ist eine Welt für sich, ein Mikrokosmos, ja – ein Biotop: Verena Kessler hat eine Feldstudie gemacht – und giesst ihre zeitgeistigen Beoachtungen in Buchform. (Activ Fitness am Bellevue in Zürich, 28.5.2025) KEYSTONE/Gaetan Bally

Im frühen Nachmittag kommen «Studenten, Freelancer, Arbeitslose». Sie bleiben nie lange. Sie werden gegen 17 Uhr von den «Anspruchsvollen» abgelöst, die «sich, die Muskeln flexend, im Spiegel fotografieren». Und stets Anliegen ans Personal haben: kein Papier mehr auf der Toilette, Heizung runter, «es sei so heiss». Mit feiner Ironie erzählt sie von einem Bodybuilder, dessen «Hals so breit ist wie sein Kopf, was ihn wie einen sprechenden Baumstamm aussehen» lasse.

Satire mit Tiefgang

Die Beschreibungen all der Äusserlichkeiten in der Körper-Drillanstalt sind doppelbödig. Ohne belehrend oder moralinsauer zu sein, macht Verena Kessler deutlich, dass unter der trainierten und polierten Oberfläche Menschen sind, die sich an – vermeintlichen – Unzulänglichkeiten abarbeiten.

Buchhinweis

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Verena Kessler: «Gym». Hanser Berlin, 2025.

Es gehe darum, «dazuzugehören». Und dafür den «Körper so anzupassen, dass er sich in ein Bild fügte». Rudermaschine, Hantelbank, Beinpresse – die Menschen strampeln sich ab, um einer «Schablone zu entsprechen» – derjenigen des perfekt optimierten Körpers.

Mit «Gym» ist Verena Kessler zum einen eine packende Geschichte um eine Frau gelungen, die sich im Fitnessrausch verliert. Zum anderen aber auch eine leichtfüssige literarische Sozialstudie zum Biotop Fitnesscenter. Es ist voller Parallelen zur modernen Leistungsgesellschaft – mit ihrem Druck und dem Gefühl der Verlorenheit für das Individuum.

«Gym»: Wie gut ist der Roman?

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Die Hauptfigur des Romans ist eine namenlose Protagonistin um die dreissig. Es beginnt damit, dass sie in einem fiktiven Studio namens «Mega Gym» einen Job an der Bar übernimmt, wo sie für die Kundschaft Protein-Shakes mixt. Die Frau ist von Haus aus unsportlich, kämpft mit überschüssigen Pfunden. Als sie zu trainieren beginnt und sich eng und sexy kleidet, gehen die Umsätze nach oben: In diesem Gym herrscht ein sexistisch aufgeladener Minikapitalismus. «Ich verkaufe Shakes mit meinen Brüsten», sagt die Frau in selbstironischer Trockenheit.

Mehr und mehr gerät die Neo-Fitnesssportlerin in den Sog eines gefährlichen Konkurrenzdenkens, das in ihrer Persönlichkeitsstruktur angelegt ist: Sie will den perfektesten unter den perfekten Körpern. Sie ernährt sich nur noch von Eiweiss. Und beginnt schliesslich sogar Steroide zu spritzen.

Ab der Mitte des Romans schiebt sich als zweite Erzählung die Vorgeschichte der Protagonistin zwischen die im Gym angesiedelte Handlung. Die Frau hatte in früherer Zeit einen gut bezahlten Bürojob, konnte jedoch mit der Konkurrenz einer erfolgreicheren Kollegin nicht umgehen. Die Situation endete damals in Gewalt. Im Gym scheint sich diese fatale Entwicklung zu wiederholen.

«Gym» ist nach «Die Gespenster von Demmin» und «Eva» der dritte Roman der 1988 in Hamburg geborenen Verena Kessler. «Gym» überzeugt durch sein rasantes Tempo, die leichtfüssig-ironische Schreibe, die komplexe Hauptfigur und die gesellschaftliche Relevanz: Das Fitnessstudio erweist sich in diesem Buch als Modell für auf Leistung und Optimierung getrimmte postmoderne Gesellschaften.

Radio SRF 1, BuchZeichen, 28.10.2025, 20:03 Uhr

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