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Roman «Jakobsleiter» In sechs Generationen durch die sowjetische Kultur

Ljudmila Ulitzkajas Opus magnum «Jakobsleiter» erzählt die schmerzhafte Geschichte ihrer eigenen Familie und die der Sowjetunion. Der Roman ist aber auch eine Liebeserklärung an die Kultur.

Alles beginnt im Jahr 2011: Ljudmila Ulitzkaja entdeckt eine Mappe mit Briefen, Tagebüchern und Romanfragmenten ihres Grossvaters Jakow Ulitzki. Ein erschütternder Fund.

Denn Jakows Leben widerspiegelt nicht nur das Elend und die Tragik einer ganzen Generation, sondern steht auch für das Unausgesprochene ihrer eigenen Geschichte.

Statistik statt Musik

Ljudmila Ulizkaja

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Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja wird 1943 in Dawlekanowo geboren. Sie wuchs in Moskau auf. 1992 erschien ihr erstes Werk auf Deutsch. In den letzten Jahren hat sie sich mehrfach kritisch gegenüber der Politik von Präsident Putin geäussert und sich an Protesten gegen ihn beteiligt.

Jakow Ulitzki, oder Jakow Ossetzki, wie er im Roman heisst, wird 1890 in Kiew als Sohn eines jüdischen Mühlenbesitzers geboren. Er erlebt die antisemitischen Pogrome des Jahres 1905.

Die Musik, seine grosse Leidenschaft, bleibt ihm als Beruf verwehrt. Stattdessen studiert er Ökonomie. Er zieht freiwillig in den Krieg. Nach der Revolution wird er Statistiker.

Verbannung für mehrere Jahrzehnte

Bedrohlich wird die Situation für ihn mit Stalins Angriffe auf die technische Intelligenz. 1931 wird Jakow verhaftet und verbannt. Als Kulturmensch, der sich auch mit Ökonomie auskennt, hat er im kulturrevolutionären und planwirtschaftlichen Russland keine Chance.

Im Gegenteil: Eine Verurteilung zu drei Jahren Verbannung für trotzkistische Umtriebe ist vermutlich die mildeste Strafe, die unter Stalin denkbar ist. Doch nach drei Jahren ist das Unglück nicht vorbei.

Audio
Ljudmila Ulitzkaja – «Jakobsleiter»
aus BuchZeichen vom 05.12.2017. Bild: Ljudmila Ulitzkaja ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands (Bild: Peter-Andreas Hassiepen)
abspielen. Laufzeit 21 Minuten 45 Sekunden.

Es folgen eine weitere Verbannung und ab 1948 eine fünfjährige Lagerhaft. Erst kurz vor seinem Tod kommt Jakow 1955 wieder frei, zwei Jahre nach Stalins Tod.

Bruch mit dem «Volksfeind»

Leidtragende dieser Geschichte ist auch Jakows Frau Maria. In jungen Jahren zieht es sie als Tänzerin nach Moskau. Später arbeitet sie im sowjetischen Erziehungswesen. Sie sehnt sich nach dem Abwesenden Jakow.

Doch die vielen Briefe, die Jakow schreibt und in denen er seine Liebe auf poetische und ergreifende Weise zum Ausdruck bringt, reichen ihr nicht. Sie lässt sich in Abwesenheit von ihm scheiden. Der gemeinsame Sohn Genrich will mit seinem Vater, dem «Volksfeind», nichts mehr zu tun haben.

Verrat wiederholt sich

Die Geschichte von Jakow und Maria ist also auch eine Geschichte von Verrat. Sie findet ihren Spiegel in der Geschichte ihrer Enkeltochter Nora. Nora ist Ljudmila Ulitzkajas Alter Ego und lebt als Bühnenbildnerin in Moskau.

Ihr Sohn Jurik, ein musikbesessener Aussenseiter, folgt seinem nicht minder weltfremden Vater nach Amerika. Nora bleibt mit ihrem Liebhaber in der Sowjetunion. Die beiden inszenieren zusammen Theaterstücke.

Der zweite Jakow

Buchhinweis

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Ljudmila Ulitzkaja: «Jakobsleiter». Hanser, 2017.

Nach Juriks Rückkehr ins postsowjetische Moskau wird er selbst Vater eines Sohnes mit dem Namen Jakow. Genau hundert Jahre nachdem der erste Jakow seine Maria kennengelernt hat.

Diese Erweiterung auf insgesammt sechs Generationen ermöglicht es Ljudmila Ulitzkaja, die ganze Geschichte der Sowjetunion zu erzählen. Und darüber hinaus.

Kultur als einzige Hinterlassenschaft

Denn Ljudmilas Ulitzkajas eigentliches Thema ist die Kultur. Alle wichtigen Mitglieder der Familie Ulitzki / Ossetzki haben mit ihr zu tun. Man begegnet in diesem Buch Rachmaninow und Glinka, Stanislawski und Tschechow und jeder Menge Kulturgrössen aus der späten Sowjetunion.

Und so wundert es auch nicht, dass der Roman letztlich auf einen von Ljudmila Ulitkajas gerne formulierten Gedanken hinausläuft: Das einzige, was eine Gesellschaft hinterlässt, ist die Kultur. Und das betrifft nicht nur antike Imperien, die untergegangen sind, das betrifft auch die Sowjetunion.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 12.12.2017, 09:00 Uhr.

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