John Irvings Bücher lesen sich oft als Plädoyers für unkonventionelle Lebensentwürfe. An diesem Erfolgsprinzip hat er bis heute scheinbar nichts geändert.
«Königin Esther» erzählt die Geschichte von Esther Nacht, einem jüdischen Waisenkind, das in New England aufwächst – im Waisenhaus St. Clouds unter der Leitung des teilnahmsvollen Dr. Wilbur Larchs. Damit kehrt Irving zurück zu «Gottes Werk und Teufels Beitrag», wohl dem Höhepunkt seiner Karriere.
Mit 13 Jahren wird Esther von der Familie Winslow als Kindermädchen für deren Tochter Honor aufgenommen. Die Mädchen wachsen gemeinsam heran und entwickeln eine starke Bindung.
Furcht ist Liebe
Als Erwachsene schliessen sie einen Pakt: Esther wird Leihmutter für Honors Kind. Und so kommt es, dass ihr Sohn James Winslow zwei Mütter hat. Honor zieht ihn in New England auf, aber zu seiner leiblichen Mutter hat er kaum Kontakt, da Esther kurz nach seiner Geburt nach Israel zieht.
Dort will sie ihre jüdische Identität ausleben. Denn in Amerika musste sie bereits als Kleinkind einschneidende Erfahrungen mit Antisemitismus machen, als ihre Mutter von Antisemiten erschlagen wurde. Darum bedeutet für Esther Jüdisch-Sein in Angst aufzuwachsen.
Um ihren Sohn James vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, spricht sie ihm vermehrt seine jüdische Identität ab. Und als der erwachsene James Winslow seine leibliche Mutter in Jerusalem trifft, versteht er Esthers Gründe: «Davor hatte Esther ihn schützen wollen, erkannte James Winslow – vor diesem nicht enden wollenden Konflikt, diesem ewig währenden Hass.»
Politik der Unkonventionalität
«Königin Esther» ist ein typischer Irving-Roman: teils autobiografisch, humorvoll und politisch. Nebst Irvings Dauerthemen wie unkonventionelle Familien oder Abtreibungsrechte, nimmt er im aktuellen Buch stark Bezug auf jüdische Identität und Antisemitismus.
James Winslow, der wohl ein Alter-Ego des Autors ist, kommt letztlich zum Schluss, dass er stets ein Verbündeter der Juden sein würde, auch wenn er selbst keiner sei. So bezieht Irving Stellung im aktuellen Zeitgeschehen.
Vage und ausschweifend
Obwohl Esther titelgebend und handlungstreibend ist, umgibt ihre Person eine eigenartige Vagheit. Von Esthers Leben in Israel erfährt die Winslow-Familie – und damit auch die Lesenden – nur aus kurzen Briefen. Nachfragen zu Esthers ständig wechselnder Postanschrift werden nicht gestellt, denn Esthers jüdische Angelegenheiten seien ihre Sache.
Anstatt Esthers Geschichte zu verfolgen, die in Israel eventuell sogar für den Mossad tätig ist, verliert sich der Text in James' Schwärmereien und Abhandlungen über Beschneidung und Abtreibung.
Entgegen dieser Vagheit in «Königin Esther», zeigt sich Irving in seinem Auftreten von einer konkreten Seite. So weigert sich der US-Amerikaner, der mittlerweile in seiner Wahlheimat Kanada wohnt, laut New York Times in die Vereinigten Staaten zu reisen, um für seinen aktuellen Roman zu werben. Grund dafür sei die Politik von Donald Trump.
Letztendlich sollte «Königin Esther» wohl als Appell an Empathie und die Wichtigkeit von gegenseitigem Verständnis dienen, bleibt aber oft zu vage und wirkt stellenweise langatmig. Irvings Humor und seine liebenswürdigen Figuren tragen das Buch nur knapp.