Das Wichtigste in Kürze:
- Shumona Sinha prangert in ihrem neuen Roman «Staatenlos» den alltäglichen Sexismus und Rassismus an.
- Sie weiss wovon sie spricht, denn als indischstämmige Frau in Frankreich ist Rassismus für sie Alltag.
- Mit ihren Texten fordert sie die Menschen auf, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken.
Ihr Roman «Erschlagt die Armen» sorgte 2011 für Aufsehen: Shumona Sinha verarbeitete darin ihre Erfahrungen als Dolmetscherin im französischen Asylwesen.
Unter anderem schlägt die wütende Ich-Erzählerin einem Asylbewerber eine Weinflasche über den Kopf. Eine Szene, die man nicht so schnell vergisst.
Wut ist nicht gewichen
Voller Wut ist auch «Staatenlos», der neuste Roman der Inderin, die seit Jahren in Paris lebt. Darin prangert Shumona Sinha alltäglichen Sexismus und Rassismus an.
Hinter den zornigen Texten steckt eine kecke Frau: Zum Interviewtermin erscheint Shumona Sinha eine Stunde zu früh.
Schon steht sie im Radiostudio, legt ihren farbigen Mantel ab und wartet neugierig. Auf die Frage, woher die Wut in ihren Texten komme, sagt sie: «Nicht von mir, nicht aus meiner Seele. Meine Bücher sind einfach ein Spiegel unserer Gesellschaft.» Was sich da spiegelt, hat es in sich.
Omnipräsente Thematik
In der ersten Szene von «Staatenlos» wird eine Inderin vergewaltigt und verbrannt. Die Frau als Zielscheibe sexualisierter Gewalt – das Thema dominiert den Roman.
Und es bringt die Autorin auch im Gespräch in Rage: «Sexuelle Übergriffe treffen alle Frauen. Egal aus welcher sozialen Schicht – egal welcher Beruf. Überall passiert es! Jede Frau wurde schon einmal belästigt. Stellen Sie sich das einmal vor!»
Drei Frauen, zwei Kontinente – gleiches Schicksal
«Staatenlos» handelt von drei Frauen: Analphabetin Mina lebt in Indien und wird von ihrem Cousin schwanger, der sie nicht heiraten wird. Esha arbeitet in Paris als Lehrerin und leidet unter Einsamkeit. Marie wurde als Kind aus Indien von einem französischen Paar adoptiert.
Shumona Sinha schildert Szenen aus dem Alltag der drei Frauen in Indien und in Frankreich. In Frankreich leben die Frauen zwar freier als in Indien, sie können beispielsweise als Alleinstehende eine Wohnung mieten, ohne dass es anrüchig wäre.
Alltäglicher Rassismus
Aber: Sie leiden unter täglichem Rassismus. Bei der Arbeit, im Supermarkt, in der Metro. Oder vor der eigenen Haustüre – wie Lehrerin Esha in dieser Szene:
«Auf dem Gehsteig vor ihrem Haus war das übliche Grüppchen aus jungen Praktikanten der Postproduktionsfirma ins Gespräch vertieft. Fünf oder sechs Jungen und Mädchen standen vor dem grossen Schaufenster ihres Büros, in ihrem ‹Rauchsalon›. Als sie an ihnen vorbeiging, quiekten sie wie Schweine.»
Autorin spricht aus Erfahrung
Gehen die Franzosen tatsächlich so mit dunkelhäutigen Frauen um? Die Szene stimmt die Leserin aus der Schweiz betroffen, aber auch etwas skeptisch.
Eine typische Reaktion, findet Shumona Sinha, so hätten auch viele Leser in Frankreich reagiert. Aber sie übertreibe nicht: «Was ich als indische Frau in Paris jeden Tag sehe und erlebe – vielleicht kann eine weisse Frau oder ein weisser Mann das einfach nicht nachvollziehen», sagt sie.
Die Augen für die Realität öffnen
Ein Totschlagargument. Shumona Sinha verweist jedoch auch auf die letzten Präsidentschaftswahlen in Frankreich, auf die grosse Aufmerksamkeit, welche die rechtsextreme Partei Front National mit ihrer Stimmungsmache gegen Ausländer erhielt.
Shumona Sinha spricht Klartext, in ihren Romanen und im persönlichen Gespräch: Der Journalistin sagt sie zum Abschied: «Wenn Sie in Ihrem persönlichen Kokon leben wollen – okay.»
Die Realität sei das aber nicht. «Wenn Sie also Ihre Augen öffnen, werden Sie feststellen, dass Ihre Nachbarin die Welt ganz anders erlebt als Sie.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 16.11.2017, 11.29 Uhr.