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Roman über Schweinezucht Der Mensch ist das grösste Schwein im Stall

In «Tierreich» erzählt von Jean-Baptiste Del Amo von 5 Generationen Schweinezüchtern. Drastisch – und ungeheuer packend.

Eine Warnung vorweg: Beim Lesen des neuen Buchs des französischen Autors Jean-Baptiste Del Amo kann einem durchaus die Lust auf Fleisch vergehen.

Dann «Tierreich», das vierte Buch des Prix-Goncourt-Preisträgers, ist – der Kalauer passt – harte Kost.

Schweinezucht über Generationen

Del Amo erzählt darin die Geschichte einer französischen Bauernfamilie, die sich fast ein Jahrhundert lang mit der Schweinezucht über Wasser hält. Der Roman setzt am Anfang des 20. Jahrhunderts ein, auf einem Hof mit einem Schwein. Er endet fünf Generationen später in den 1980er-Jahren, mit einer riesigen Schweinezucht-Industrie.

In diesem Mikrokosmos zeigt Del Amos Buch die ganze Geschichte der Unterwerfung des Tiers durch den Menschen auf.

Ein Roman, der Grenzen überschreitet

Sprachlich ist das ungeheuer sinnlich umgesetzt. So vermag Del Amo etwa alle denkbaren Gerüche zu beschreiben.

In der Handlung ist das Buch zudem so drastisch, dass es einem buchstäblich den Atem raubt. Wie Del Amo die Grenzen zwischen dem Dasein von Mensch und Tier verwischt, ist literarisch betrachtet eine Wucht.

Oft spielt der Roman mit dem Unzumutbaren und triggert das Gefühl des Ekels. So etwa mit einer Szene, in der die Bäuerin während der Arbeit im Schweinestall eine Fehlgeburt hat. Weil sie nicht weiss, wohin mit dem toten Fötus, wirft sie ihn den Tieren zum Frass vor.

Apokalyptische Warnung

«Tierreich» ist kein Buch für zarte Seelen. Trotzdem sollte man es sich unbedingt antun. Während der Mensch im Roman versucht, sich das Tier zu unterwerfen und es auszubeuten, fühlt man sich als Leserin manchmal selbst wie ein Schwein. Del Amo nimmt phasenweise sogar geschickt die Perspektive des Tieres ein.

Buchhinweis

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Jean-Baptiste Del Amo: «Das Tierreich», übersetzt von Karin Uttendörfer. Matthes & Seitz, 2019.

Daneben zeigt er auch die Trostlosigkeit des Zusammenlebens in dieser Gesellschaft, die geprägt ist durch Glauben und Aberglauben. Politik kommt kaum vor. Eben sowenig wie Wahlmöglichkeiten, mit wem man als Individuum wie verkehrt.

Der Roman endet denn auch apokalyptisch – als Menetekel, als unheilvolle Warnung an unsere Zivilisation.

Nicht in die Moralfalle getappt

Jean-Baptiste Del Amos Drastik fordert einen heraus, sich zum Geschilderten zu verhalten. Aber obwohl der Autor ein erklärter Tierrechtsaktivist ist, drängt «Tierreich» einem keine moralische Botschaft auf. Es wirft eher Fragen auf, als sie zu beantworten.

Das macht aus dem Roman keinen Sommerschmöcker – aber eines der literarischsten Bücher dieses Frühjahrs.

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