Am 12. September 1919 besetzen italienische Freischärler die Hafenstadt Fiume (das heutige Rijeka) an der Adriaküste – gegen den Willen der italienischen Regierung und der Pariser Friedenskonferenz, die gerade das Nachkriegseuropa neu ordnet.
Angeführt wird die Truppe vom Dichter, Weltkriegspiloten und Nationalisten Gabriele D’Annunzio. Er will die Stadt, in der gleichermassen Italiener und Kroaten leben, nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie an Italien anschliessen. Stattdessen entsteht eine italienisch dominierte «freie Republik», die international aber nirgendwo anerkannt wird.
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Bild 1 von 2. Ein Mann mit einer Vision: Gabriele D’Annunzio (Mitte) ruft 1919 in Fiume den Freistaat aus. Dirk Stermanns Roman «Republik der Irren» beruht auf diesen wahren Ereignissen – mit ein paar literarischen Freiheiten. Bildquelle: Getty/DEA/Biblioteca Amrosiana.
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Bild 2 von 2. Militärparade im Juni 1919 in Fiume: Die Grenzen sind nach dem Krieg noch nicht fertig gezogen. Nach D’Annunzios Meinung soll das heutige Rijeka (Kroatien) ein Teil von Italien werden. Bildquelle: Getty/DEA/Biblioteca Amrosiana.
D’Annunzio gibt dem Selfmade-Staat eine Verfassung, die viele Elemente des späteren faschistischen Systems vorwegnimmt, aber auch überraschend viele revolutionäre Sozialreformen vorsieht: Gewerkschaften, Pressefreiheit und das Wahlrecht für Frauen.
Dazu kommen Symbole und Rituale, die später von italienischen und deutschen Faschisten übernommen werden: Uniformen und Zeremonien, Reden vom Balkon und Dialoge mit den Zuhörern, Lieder und Schlachtrufe – und nicht zuletzt der römische Gruss mit erhobenem rechten Arm.
13 Monate Ausnahmezustand
Unter der exzentrischen Führung Gabriele D’Annunzios, geprägt von ausschweifenden Feiern, Alkohol- und Drogenkonsum sowie sexuellen Eskapaden, wird Fiume zum Magnet für italienische Künstlerinnen und Künstler.
Besonders die Futuristen zieht es in die selbsternannte Republik, deren Nähe zum Faschismus bis heute nachklingt. Beispielsweise in einer aktuellen Futurismus-Ausstellung in Rom, in der die Bewegung vollkommen unhinterfragt als italienischen Aufbruch in die Moderne gezeigt wird.
Dirk Stermann hat aus den 13 Monaten Republik in Fiume einen Roman gemacht. Ihn interessiert an der historischen Geschichte vor allem die Nähe zur Gegenwart, allem voran die Figur D’Annunzios, dessen Narzissmus Züge heute existierender Politiker beinhaltet.
Bewusst hat er auch D’Annunzios Talent hervorgehoben, die Massen über Monate hinweg emotional zu elektrisieren und ihnen ein politisches Können vorzugaukeln, das er in Wirklichkeit in keinster Weise besitzt. Dass die Republik am Ende scheitert, ist von Anfang an klar.
Ministerposten für Axtmörder
Was aber den Roman wirklich besonders macht, ist seine Konstruktion: Dirk Stermann erzählt die Geschichte aus der Sicht eines jungen Krankenpflegers, der in einem italienischen Irrenhaus arbeitet. (Man entschuldige dieses Wort, aber das, was damals eine «psychiatrische Klinik» war, verdient diesen Namen nicht.)
Dieser junge Mann hat die Aufgabe, einen Insassen seiner Klinik nach Fiume zu begleiten. Dort soll er aufgrund einer futuristischen Schnapsidee zum Minister ernannt werden. Zum Minister für Handschlag, was angesichts der Vergangenheit des Patienten als Axtmörder eine ganz besondere Komik hat.
Tatsächlich ist dieser Teil des Romans erfunden. Die Idee, Ministerposten an Irre zu vergeben, stammt zwar von den Futuristen, wurde aber nie umgesetzt. Bei Stermann allerdings schon. Und führt dazu, dass der ganze Rest der Geschichte, die ja beileibe verrückt genug ist, aus sicherer Distanz beschrieben und auch gelesen werden kann. Und das mit allergrösstem Vergnügen.