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Roman von Nora Bossong «Reichskanzlerplatz»: Magda Goebbels' moralischer Niedergang

Die deutsche Autorin Nora Bossong spürt in ihrem neuen Roman Magda Goebbels nach. Eine unbequeme Geschichte, die nicht ausweglos gewesen wäre.

Wie die Geschichte endet, ist bekannt: Am 1. Mai 1945 vergiftet Magda Goebbels im Führerbunker ihre sechs Kinder. Danach töten sie und ihr Mann sich selbst. Magdas Lebensweg zu diesem grausamen Schlusspunkt verlief aber alles andere als linear. Davon erzählt Nora Bossong in ihrem neuen Roman «Reichskanzlerplatz» – aus einer überraschenden Perspektive.

Von Magda weiss man, dass sie gegen Ende ihrer ersten Ehe mit dem Grossindustriellen Günther Quandt ein Verhältnis mit einem Studenten hatte, das wohl ausschlaggebend für das Ende dieser Ehe war. Über diesen Studenten sind allerdings kaum Details bekannt. Genau da setzt «Reichskanzlerplatz» an: Hauptfigur und Ich-Erzähler des Buchs ist nicht die spätere Magda Goebbels selbst, sondern dieser Student, der im Roman Hans Kesselbach heisst.

Verstrickungen à discrétion

Kesselbach ist homosexuell, Magda weiss das. Seine erste Liebe war ihr Stiefsohn Hellmut Quandt, der mit Kesselbach die Schule besuchte. Trotzdem gehen Magda und Hans später ein Verhältnis ein. Für sie war es ein Ausbruch aus der Ehe, für ihn ein Schutz vor Fragen. Hans hilft ihr im Scheidungsstreit gegen Quandt, Magda deckt ihn und lässt ihn im Nationalsozialismus Karriere machen. Nora Bossongs Roman ist ein Buch voller Verstrickungen.

Familienfoto Goebbels, schwarz-weiss.
Legende: Keine glückliche Familie: Magda Goebbels mit ihrem Mann Paul Joseph Goebbels und zwei ihrer Kinder (der Junge ist Magdas Sohn aus erster Ehe). IMAGO / Gemini Collection

Ende der 1920er-Jahre lernt Kesselbach bei Salons in der Wohnung der frisch geschiedenen Magda ganz «en passant» die Nazi-Elite kennen. Einmal spielt er an Magdas Flügel Schubert, während Adolf Hitler hinter ihm steht und ihn lobt: «Es geht zu Herzen». In dieser Zeit lernt Magda auch Joseph Goebbels kennen, den späteren Propagandaminister unter Hitler. Magda ist so fasziniert von ihm, dass sie schon bald zur glühenden Vorzeige-Nationalsozialistin wird und ihn kurzerhand heiratet.

Ein Mitläufer und seine Zweifel

Später während des Zweiten Weltkriegs zweifelt Kesselbach immer mehr. Er lässt sich aufs Generalkonsulat in Mailand versetzen, wo er sich etwas mehr Ruhe vor dem Regime verspricht. Kein Haupttäter also, aber doch ein Mitläufer des Systems und ein Opportunist: eine zutiefst ambivalente Figur.

Dass der Roman aus seiner Perspektive erzählt wird, ist neben der nüchternen Sprache ein Grund dafür, wie unbequem sich dieses Buch liest: Stets ist man auf der Seite der Nazis, stets sucht Kesselbach nach Relativierungen für die schlimmen Dinge, die er um sich herum geschehen lässt. Gleichzeitig zermartert er sich das Hirn, ob er das Phänomen Magda Goebbels vielleicht doch hätte verhindern können, wenn er sie stärker gegen den Nationalsozialismus überzeugt hätte – wenn er selbst stärker dagegen gehalten hätte.

Fragen ohne Antworten

Dass sich beim Lesen Fragen aufdrängen, warum nicht mehr Widerstand geleistet wird und ob es wirklich keine Auswege gegeben hätte, sei Teil des Programms, sagt Nora Bossong: «Das sind Fragen, die wir uns stellen müssen. Und wir müssen uns auch fragen, ob wir selbst in dieser Situation wirklich so anders gehandelt hätten, wie viele das gern behaupten». Deswegen sei es ihr wichtig gewesen, einen «mittelmässigen» Menschen zum Erzähler ihres Romans zu machen.

Hans Kesselbachs Mischung aus Hilflosigkeit und Opportunismus sei für sie typisch für sehr viele Menschen der Zeit, sagt Nora Bossong. Die Konsequenz davon im Buch ist Magdas moralischer Niedergang – selbstverständlich gleichzeitig ein Symbol für den Abstieg Deutschlands in den Nationalsozialismus.

Radio SRF 2 Kultur, Literaturclub «Zwei mit Buch», 12.08.2024, 18:30 Uhr.

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