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Literatur Schuld und Lügen: Ein Mann verarbeitet seine Fahrerflucht

«Löwen wecken» von Ayelet Gundar-Goshen erzählt die Geschichte eines israelischen Arztes, der nachts einen Eritreer überfährt und Fahrerflucht begeht. Daraufhin versinkt er in einem Sumpf aus Schuld, Scham und Selbstverachtung. Doch kann eine Tat für das ganze Leben eines Menschen stehen?

Ein Arzt rettet normalerweise Leben. Anders Etan, Neurochirurg und Hauptfigur in «Löwen wecken»: Nach einem anstrengenden Nachtdienst überfährt er mit dem Auto einen Menschen. Weil er sofort sieht, dass er dem Schwerverletzten nicht mehr helfen kann, rettet er sich selbst und fährt weiter – ohne die Ambulanz oder die Polizei zu rufen.

Natürlich hat Etan Angst, dass herauskommt, wer den Unfall verursacht und Fahrerflucht begangen hat. Natürlich leidet er und hat riesige Schuldgefühle. Trotzdem geht er wie gewohnt nach Hause ins Bett. Am andern Morgen steht eine Eritreerin vor seiner Haustür. Es ist die Frau des Opfers, sie hat ihn gesehen. Nun erpresst sie ihn.

Ein Mann verstrickt sich in Lügengeschichten

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Ayelet Gundar-Goshen: «Löwen wecken», Kein&Aber, 2015.

Etan soll ihre Landsleute, illegale Einwanderer aus Eritrea, gratis behandeln. Von da an lebt er nach aussen sein normales Leben weiter, so gut es geht: Frühstückt mit Frau und Kindern, arbeitet tagsüber im Spital. Nachts behandelt er in einem Versteck kranke Flüchtlinge. Irgendwann – kurz bevor es hell wird – fährt Etan nach Hause um sich noch einige Stunden aufs Ohr zu legen. Seiner Frau erklärt er, er müsse zusätzliche Nachtdienste leisten.

Die Geschichte ist dramatisch. Man liest und liest, kann das Buch fast nicht mehr weglegen. Etan steht unter einem unglaublichen Druck, verstrickt sich immer mehr in Lügengeschichten. Man fragt sich stetig, was sich die Autorin noch alles ausgedacht hat für ihren Protagonisten. Dass Etans Frau ausgerechnet jene Kriminalbeamtin ist, die im Fall der Fahrerflucht ermittelt, wäre allerdings nicht nötig gewesen. Der Roman ist auch sonst stark genug.

Die Autorin ist auch Psychologin

Gundar-Goshen schildert die Gefühlslage ihres Protagonisten glaubwürdig und nachvollziehbar. Trotz seiner Tat ist Etan niemals unsympathisch. Man entwickelt sogar Mitgefühl für ihn und hofft fast ein bisschen, dass er ohne Strafe davonkommt. Genau das macht die Sache interessant.

Die 33-jährige Autorin hat ein Gespür für psychologische Vorgänge im Innern eines Menschen und kann sich gut in sie hineinversetzen. Kein Wunder: Neben dem Schreiben arbeitet sie als Psychologin in Tel Aviv. Ihre Rolle als Schriftstellerin vergleicht sie mit derjenigen der Psychologin: Man dürfe einen Menschen, der etwas getan hat, nicht moralisch verurteilen, sondern müsse seine Motivation verstehen.

Wenn sich Leser und Leserinnen nach der Lektüre von «Löwen wecken» fragen, wie sie selbst gehandelt hätten in Etans Situation, dann würde sich die Autorin freuen. Genau das habe sie nämlich beabsichtigt, sagt sie.

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