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Schweizer Autorin gestorben Helen Meier: Eine Meisterin des Ungemütlichen

Die Autorin Helen Meier ist mit 91 Jahren in Trogen verstorben. Sie war eine Ausnahmeerscheinung der Schweizer Literatur.

«Er ist am Schaufeln einer Grube. Statt aufzuhören, macht er weiter. Aufhören ist schwer. Schaufeln ist leichter.»

Sätze wie diese finden sich in Helen Meiers Geschichtenband «Kleine Beweise der Freundschaft» von 2014. Sätze voll Metaphorik, bitterbösem Humor und einem erfrischenden Hang zum Surrealen.

Diese für die Autorin typische sprachliche Mischung findet sich in vielen ihrer Werke – sei es in ihren Erzählungen oder in Romanen wie «Die Novizin» von 1995 über eine spannungsgeladene Frauenbeziehung.

Gebrochene Existenzen

Immer wieder ging es Helen Meier darum, die Widersprüchlichkeiten des menschlichen Lebens auszuleuchten: in Lebensläufen, die fehlschlagen oder in unerfüllter Liebe. Später dann in der Erfahrung des Alterns und der Vergänglichkeit.

Im erwähnten Erzählband etwa schildert die Autorin Menschen, die den Jahren nachtrauern und dabei scheitern. Aber auch von denjenigen, die sich nicht unterkriegen lassen, obwohl das Ende naht. Die Bürden des Alters beschreibt sie schonungslos. Auch damit verbundene böse Gefühle.

Helen Meier schrieb über Existenzielles. Über Verwerfungen. Wer in ihren Texten Trost sucht, sucht vergebens.

Es dürfe Leserinnen und Lesern bei ihren Texten nicht zu wohl werden, sagte Helen Meier einmal. Lieber überraschte sie immer wieder mit schräg-skurrilen Wendungen.

Später Durchbruch

Helen Meiers Weg zur Schriftstellerei war einzigartig in der Schweizer Literatur. Die 1929 im St. Gallischen Mels Geborene studierte Sprachen und Pädagogik, arbeitete als Primar- und Sonderschullehrerin und engagierte sich zwischenzeitlich auch in der Flüchtlingshilfe für das Rote Kreuz.

Seit ihrer Teenagerzeit zog es sie immer auch zum Schreiben. Lange ohne den Gedanken an eine Veröffentlichung. Später schickte sie ihre Erzählungen immer wieder an Verlage. Ohne Erfolg.

«Die Lektorate dürften damals über die Frechheit und Unverfrorenheit der Texte erschrocken sein», sagt der Meier-Biograf Charles Linsmayer. Und: «Damals erwarteten Verlage von Frauen ‹Frauenliteratur›. Dieses Genre hat Helen Meier nie bedient.»

Geradezu märchenhaft war dann ihr später Durchbruch: 1984, im Alter von 55 Jahren, wurde sie beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt für ihre Erzählung «Lichtempfindlich» ausgezeichnet. Der Text war Teil ihres Erstlings, dem Erzählband «Trockenwiese».

Dunkle Ecken ausleuchten

Helen Meier berichtet von den Rändern der Gesellschaft: von vereinsamten Alten, von Aussenseitern mit Behinderung, von spiessigen Bürgern. All diese Figuren sind – oft ohne es genau zu wissen – voll von Lebenssucht. Doch die Zeit scheint davonzulaufen, ohne dass sich ihr Glück noch erfüllen würde.

Nach dem aufsehenerregenden Durchbruch 1984 erschienen in regelmässigen Abständen Prosa-Bände, die Zeugnis ablegen von der nicht abbrechenden Fabulierlust der Autorin: Erzählbände wie «Das einzige Objekt in Farbe», «Das Haus am See» oder das «Nachtbuch».

Immer wieder verstand Helen Meier es, in ihren Werken einen unentrinnbaren Sog zu entwickeln, in dem sie hinter das vermeintlich Alltägliche und Harmlose blickte. Und dabei Abgründe wie kaputte Ehen, sexuelle Ausbeutung oder Lebensekel ans Licht beförderte.

Und immer wieder gelang es der Meisterin des Geschichten-Erzählens, uns Leserinnen und Leser Teil des Geschilderten werden zu lassen – mit unseren Gefühlen, mit unserem Zorn, mit unserer Sehnsucht.

Literatur als Passion

Für die Autorin war die Auseinandersetzung mit Sprache zeit ihres Lebens unverzichtbar. Sie finde ihre Stoffe im Alltag, sagte Helen Meier einmal: «Ich sehe die Menschen an, ich rede mit ihnen. Danach muss das Erfahrene nur noch Wort werden.»

In ihrem letzten Lebensjahrzehnt sprach Helen Meier bisweilen auch offen über ihren eigenen Tod. 2014 sagte sie in einem Interview, sie sei noch immer «süchtig nach Leben».

Und dass sie «noch so viel erleben, lesen, sehen und hören» möchte. Gleichzeitig sei die Aussicht auf das Ende für sie aber auch beruhigend – «weil es nicht ein endloses Weitergehen des Gleichen gibt».

Sendung: Radio SRF 1, Nachrichten, 13.02.2021, 11:00 Uhr

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