SRF: Jakob, die Hauptfigur in Ihrem neuen Roman «Ein treuer Freund», besucht Beerdigungen von wildfremden Menschen. Haben Sie das auch schon gemacht?
Jostein Gaarder: Nein. So wie Jakob nicht, aber natürlich gab es Situationen, in denen ich die Verstorbenen nicht kannte. Vielleicht waren mir ihre Tochter oder ihr Sohn vertraut. Aus Freundschaft zu Angehörigen ist es normal, an solchen Abdankungen teilzunehmen.
Jakob ist eine Art verdrehtes Selbstporträt von mir.
Was gab die Idee zu diesem Stoff?
Die erste Idee bestand darin, einen Roman zu schreiben, der aus vielen verschiedenen Geschichten besteht. Solche gibt es in «Ein bester Freund» tatsächlich zuhauf. Jede neue Beerdigung, an der Jakob teilnimmt, liefert Stoff für eine weitere Begebenheit.
Die meisten von uns sind verwandtschaftlich eingebunden, haben Eltern, Geschwister, Partner, Kinder. Jakob ist allein, aber er hat Linguistik studiert und erachtet die Familie der indogermanischen Sprachen als seine Familie.
Ich muss gestehen: Jakob ist eine Art verdrehtes Selbstporträt von mir. Er wurde am selben Tag wie ich geboren. Wir teilen die gleichen Interessen, haben beide dasselbe Studium hinter uns gebracht. In diesem Roman werden viele Landschaften in Schweden und in Norwegen beschrieben, die mir selber sehr viel bedeuten.
Inwiefern ein «verdrehtes Selbstporträt»?
Wenn Sie in Freizeitparks gehen – wie etwa das «Tivoli» in Kopenhagen – dann finden Sie sogenannte Spiegelkabinette, wo Sie sich mal dick, mal dünn, mal gross, mal klein begegnen.
Das Bild ändert sich laufend, aber im Kern sehen Sie immer denselben Menschen. Ich glaube, ich hätte diesen Roman nicht schreiben können, gäbe es da nicht eine gewisse Seelenverwandtschaft mit Jakob.
Es gibt auffällige Parallelen zwischen «Sofies Welt» und «Ein bester Freund». Man spürt, dass Sie dem Publikum Wissen vermitteln wollen: Mit Sofie wurden wir mit philosophischen Fragen konfrontiert; mit Jakob entdecken wir die Welt unserer Wörter. Verfolgen Sie tatsächlich auch didaktische Ziele?
Ja, Sie haben recht. Da schlummert wohl immer noch der einstige Gymnasiallehrer in mir. Ich bin auch überzeugt, dass wir selbst komplizierte Dinge begreifen, wenn wir sie durch eine spannende Geschichte erfahren. So entstand damals auch «Sofies Welt». Ich benutzte Sofie als ein Werkzeug, um den Schülerinnen und Schülern Philosophie zu erklären.
Das Buch war eigentlich als Manual im Unterricht und nicht als Roman für die Öffentlichkeit gedacht: Ein Mädchen kommt von der Schule nach Hause, öffnet den Briefkasten, findet dort einen rätselhaften Brief und so kommt die Geschichte in Gang.
Mir schien, ich spielte nur noch eine Rolle wie ein Schauspieler – oder ein Zirkusclown.
«Sofies Welt» ist also über den Umweg eines norwegischen Klassenzimmers in die Stuben von Millionen von Menschen gelangt. Wie hat dieser Erfolg Sie persönlich verändert?
«Sofies Welt» hat mich als Menschen überhaupt nicht verändert. Mein Temperament oder die Art und Weise, wie ich denke, sind gleich geblieben.
Aber es hat mein Leben verändert. Und zwar ganz praktisch: Plötzlich war ich ein Star. Davon hatte ich natürlich geträumt. Aber manchmal war es auch der Horror.
Ich erinnere mich an einen Flug nach Zürich. Ich begann plötzlich zu heulen. Aus Erschöpfung, aber auch weil mir diese ständige Reiserei von einer Talkshow zur nächsten Lesung plötzlich so bedeutungslos vorkam. Mir schien, ich spielte nur noch eine Rolle wie ein Schauspieler – oder ein Zirkusclown.
Heute, im Rückblick, bin ich Sofie einfach nur grenzenlos dankbar. Über Jahrzehnte ist sie in den Köpfen vieler Menschen präsent geblieben. Sie sorgt nach wie vor dafür, dass auch meine neuen Bücher jeweils rasch wieder um die Welt gehen. All das wäre ohne Sofie nie geschehen.
Das Gespräch führte Luzia Stettler.
Sendung: Radio SRF 1, Buchzeichen, 23.7.2017, 14 Uhr