Emilie T. steht vor Gericht. Ihr wird vorgeworfen, sie habe über 70 Menschen mit Gift in den Tod begleitet. David Mohr ist Emilies Pflichtverteidiger, ein junger Jurist an der Schwelle zur Karriere. Mit seiner Verteidigungs-Strategie hebelt er die Gesetze des gesunden Menschenverstandes aus, so dass bald allen Beteiligten klar ist: Emilie war zwar vermutlich die Täterin, aber sie wird dennoch freigesprochen. Denn es liegen gegen sie keine endgültigen Beweise vor, nur Indizien. David Mohr entkräftet jedes dieser Indizien durch geschickt platzierte Gegenindizien.
Das Gift und der Dritte Mann
Ein Beispiel: Trotz aufwändiger Suche hat die Polizei bei Emilie keine Spuren des verwendeten Gifts gefunden. David Mohr bringt deshalb einen «Dritten Mann» ins Spiel, für dessen Existenz es zwar keinerlei Hinweise gibt, aber er dient dem Verteidiger für eine logische Schlussfolgerung: «Entweder gibt es weder den Dritten Mann noch das Natriumpentobarbital im Umfeld meiner Mandantin oder aber, falls man weiterhin auf der Existenz des Gifts besteht, muss man dies wohl doch mit derselben Beharrlichkeit hinsichtlich der Existenz des «Dritten Mannes» tun.»
Alle im Saal spüren: Der Mann hat wohl recht. Die Stimmung, am Anfang gegen das «Monster» Emilie, schwenkt immer offensichtlicher um zu ihren Gunsten. Die Medien berichten exzessiv über alles, was mit dem Fall zu tun hat - nur Emilie schweigt und bleibt deshalb die grosse Unbekannte.
Die Macht des Erzählers
Das Thema Sterbehilfe ist in dieser Novelle nur der Steigbügelhalter für den Autor, an einem emotional aufgeladenen Thema die Mechanismen eines von den Medien scharf beobachteten Indizienprozesses durchzuspielen. Nicht einmal der Freispruch ist von zentraler Bedeutung. Im Kern von Bundis Novelle steckt die These: Wer die beste Geschichte erzählt, gewinnt am Ende.
Die beste Geschichte erzählt vor Gericht David Mohr. Er ist die heimliche Hauptfigur der Novelle. Dabei steckt hinter der brillanten Rolle, die er im Prozess spielt, ein Mensch mit tausend Problemen: Seine Freundin hat ihn verlassen, als sie entdeckte, dass er medikamentensüchtig ist. Seine Mutter ist bei einem Routineeingriff im Spital gestorben. Der Vater floh anschliessend nach Thailand vor der Steuerbehörde. Mit David Mohr geraten wir nicht nur in gebildete und philosophische, sondern auch in ganz menschliche, konkrete Auseinandersetzungen über die Frage: Wer bin ich? Was soll ich tun mit meinem Leben?
Ein kluger Anspielungs-Reigen
Das alles liest sich vergnüglich und anspielungsreich: Davids «Dritter Mann» ist eine Anspielung auf den berühmten Nachkriegskriminalfilm «The third man». Die Frage, nach welchem der beiden Moor-Brüder aus Schillers Drama «Die Räuber» er geraten sei, wird selbstverständlich auch besprochen. Nach keinem, lautet die Antwort: Er ist weder Karl noch Franz, sondern David Mohr.
Auch sonst spielt Bundi mit Fiktionsebenen: Der ganze Prozess wird von einem Freund des Verteidigers erzählt, der selber alles nur aus Erzählungen und aus den Medien kennt. Dieser Freund ist Sprachphilosoph und referiert darüber, dass Sprache zwar funktioniert, letztlich aber unerklärlich bleibt. Genau dies demonstriert der Gerichtsprozess um Emilie T.
Selber denken statt geführt werden
Markus Bundi platziert jeden seiner spärlichen Sätze ganz gezielt, lässt grosse Erzähllücken und zwingt so den Lesenden zum Nachdenken über Recht und Gerechtigkeit. Man spürt die Herkunft des Autors von der Lyrik: Da wird nirgends überbordend erzählt, sondern knapp und dicht auf das Wesentliche reduziert.