Fünf Plätze waren zu vergeben, ganze vier davon gehen an Schweizer Literatinnen und Literaten. Eine sehr helvetische SRF-Bestenliste also. Hier die von der Jury gekürten Lese-Highlights im September – im Countdown.
5. Saša Stanišić: «Möchte die Witwe angesprochen werden…» (26 Punkte)
Saša Stanišić, 1978 in Bosnien geboren, flüchtete mit seinen Eltern 1992 nach Deutschland. Schon zu Schulzeiten wurde sein Schreib-Talent offenbar. 2019 erhielt er dann sogar den Deutschen Buchpreis – für sein Werk «Herkunft» . Darin setzt er sich mit seiner Migrationsgeschichte auseinander. Diese ist nun auch eines der Themen in Stanišićs neuem Erzählband, das den langen Titel trägt: «Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne». Stanišić zeichnet darin sympathische Anti-Heldinnen und Anti-Helden, die einen Rucksack voller Erinnerungen mit sich schleppen.
Das Leben erzählt keine Geschichten, Saša Stanišić schon. Und er tut dies erfrischend verspielt, mit hintersinnigem Sprachwitz und einer Prise Melancholie.
4. Benedict Wells: «Die Geschichten in uns» (28 Punkte)
Eigentlich wollte er gar kein Buch verfassen. Nach seinem letzten Roman «Hardland» hatte Benedict Wells angekündigt, eine Auszeit vom Schreiben zu nehmen. Aber es kam anders: In «Die Geschichten in uns» beschreibt Wells seinen langen, steinigen Weg zum Schriftsteller. Anfangs wollte kein Verlag seine Manuskripte haben. Inzwischen liefert er Bestseller auf Bestseller. Wells erklärt in seinem neuen Werk, worauf es beim Schreiben ankommt. Und er blickt zurück auf seine Kindheit, die ihm oft als Inspirationsquelle für seine Texte dient.
Wie so oft bei Benedict Wells versinkt man auch bei ‹Die Geschichten in uns› völlig im Text, wird hineingezogen und folgt gebannt der Erzählung.
3. Alain Claude Sulzer: «Fast wie ein Bruder» (33 Punkte)
Im Ruhrgebiet wachsen sie auf wie Brüder. Doch anders als den Ich-Erzähler zieht es Frank hinaus in die Welt: Er will als Künstler leben und geht nach New York. Nach langer Zeit begegnen sich die Freunde an Franks Sterbebett zum letzten Mal. Und so landen die Bilder aus Franks Nachlass in der Remise des Erzählers. Jahrzehnte später entdeckt er die Bilder zufällig in einer Galerie. Rätselhaft, wie sie dort hingelangt sind … In seinem neuen Roman erkundet Alain Claude Sulzer existenzielle Fragen über Freundschaft und Abschied, über Homosexualität und Kunst.
Dieser Roman wirbelt auf, was die Gesellschaft seit Jahrzehnten zu verbergen versucht: Die Angst, dass uns dereinst etwas offenbart, die Augen dort verschlossen zu haben, wo man hätte hinschauen sollen.
2. Mariann Bühler: «Verschiebung im Gestein» (40 Punkte)
Als Literaturvermittlerin ist Mariann Bühler bereits wohlbekannt. Nun legt sie ihren ersten Roman vor. «Verschiebung im Gestein» erzählt von drei Figuren, die alle mit Veränderungen in ihren Leben konfrontiert sind: Todesfälle, Aufbrüche, Enttäuschungen. Was die drei ausserdem verbindet, ist ein entlegenes Bergtal und die Tatsache, dass sie sich lieber mit Nebensächlichkeiten abgeben, als sich ihren Schwierigkeiten zu stellen. Ein höchst gelungenes Debüt, das leise Töne anschlägt, es aber in sich hat.
Mariann Bühlers Debüt ist eine unkitschige Ode an die Langsamkeit auf dem Land.
1. Zora del Buono: «Seinetwegen» (59 Punkte)
Zora del Buono war gerade einmal acht Monate alt, als ihr Vater bei einem Autounfall in der Ostschweiz ums Leben kam. Der tote Vater – er wurde zur Leerstelle in del Buonos Leben. Sie wuchs allein bei ihrer Mutter auf. Über den Unfall geredet wurde nie. Jetzt, mit Anfang 60, überkam del Buono das Bedürfnis, den Verursacher zu finden, der damals mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf der Landstrasse unterwegs gewesen war. Wie hat er all die Jahre gelebt mit seiner Schuld? Was war er für ein Mensch? Diese Fragen hat sich del Buono gestellt. Ihre Recherche hat sie schreibend begleitet.
Eine persönliche und bewegende Suche nach dem Unfallverursacher und ‹Mörder› ihres Vaters. Ein Buch über Schuld und Vergebung. Absolut lesenswert.