SRF: Was halten Sie von der Kritik der Berliner Studierenden, die sagen, Ihr Gedicht repräsentiere eine klassische patriarchale Kunsttradition?
Eugen Gomringer: Man kann über dieses Thema sprechen. Nur sollte es nicht mit kompletter Ignoranz geschehen. Die guten Leute, die mein Gedicht angreifen, wissen gar nicht, was sie da eigentlich entzünden.
Ich bin ja nicht allein «der Gomringer» und nicht allein «Avenidas». Das Gedicht, um das es geht, ist eines der bedeutendsten Gedichte der modernen Lyrik. Diese Tatsache kann man nicht einfach zur Seite schieben oder kaputtreden – das hat keinen Sinn.
Die Studierenden kritisieren eine Haltung, die vielleicht damals anders wahrgenommen wurde als heute. Sie interpretieren eine Art von Macho-Haltung in Ihrem Gedicht. Können Sie das nachvollziehen?
Nein, das kann ich gar nicht nachvollziehen. Aber natürlich: Ich war damals ein Offizier, ich wurde im Tessin ausgebildet zum Grenadier. Zum Zeitpunkt als ich das Gedicht schrieb, 1951, war ich also ein richtig kräftiger, junger Schweizer.
Ob das nun bereits Machotum ist oder nicht, das weiss ich nicht. In meiner nächsten Umgebung war ich kein Macho – das wird mir häufig bestätigt.
Können Sie sich daran erinnern, was Sie aussagen wollten, als sie das Gedicht 1951 geschrieben haben?
Ich wollte ungefähr das ausdrücken, was mir heute auch in Czernowitz passiert ist ( der Autor hält sich gerade für ein Literaturfestival in der Ukraine auf, Anm. d. R. ). Ich bin heute spazieren gegangen, in dieser sehr schönen Stadt. Und was habe ich gesehen?
Eine wunderbare Allee, mit sehr vielen Blumen und sehr schönen Frauen. Da habe ich gedacht: Das ist nun eine ähnliche Situation wie damals – und diese wiederholt sich immer und immer wieder. Gott sei Dank!
Die Berliner Hochschule denkt darüber nach, die Fassade neu zu gestalten. Was wollen Sie tun?
Es ist inzwischen so viel geschehen. Gegen 30 Schriftsteller haben sich zu Wort gemeldet, auch bolivianische. Ich kann diesen Freunden gegenüber nicht sagen: «Halt, ich gebe nach.» Ich neige im Moment also nicht dazu, nachzugeben. Sondern sage: Lasst es doch bitte einfach geschehen.
Sind Sie bereit zu Gesprächen, zu einem Kompromiss?
Für einen Dialog hat sich noch niemand an mich gewendet. Ich habe lediglich einen Brief bekommen vom Rektor der Alice-Salomon-Hochschule, dass man «Avenidas» verändern oder entfernen möchte.
Sind Sie gegen eine Entfernung des Gedichts?
Ja, ich bin gegen eine Entfernung.
Was halten Sie grundsätzlich von dieser Diskussion über die Lyrik?
Sie ist deshalb wichtig, weil mein Gedicht auch ein klassisches konkretes Gedicht ist. Die konkrete Poesie ist sehr wertvoll in diesen Tagen, wo man den Wörtern nicht mehr richtig glaubt.
Die Sprache ist heute grössenteils unglaubwürdiger geworden. Da braucht es eine Sprache, die vielleicht aus wenigen Wörtern besteht – und mit diesen wenigen Wörtern dasteht.
Das Gespräch führte David Vogel.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 8.9.17, 17:08 Uhr