SRF: Sie setzen sich wissenschaftlich mit dem Kannibalismus auseinander. Wie schmeckt eigentlich Menschenfleisch?
Nahlah Saimeh: (lacht) Da kann ich nicht weiterhelfen. Menschenfleisch als kulinarische Delikatesse ist nicht mein Ding. Ich befasse mich mit Menschen, die aufgrund von psychischen Störungen kannibalische Phantasien entwickeln.
Können Sie sich eine Situation vorstellen, in der auch Sie Menschenfleisch essen würden?
Ich habe – wie die meisten Menschen – eine sehr hohe Hürde, Menschenfleisch zu essen. Dieses Tabu ist sehr tief verankert. Aber bleiben wir bescheiden: Es gibt existenzielle Notsituationen, wo ich nicht weiss, wie ich handeln würde.
In rituellen Handlungen hat man Tote verspeist, um sich deren Kräfte einzuverleiben.
Ist dieses Kannibalismus-Tabu kulturell bedingt, oder ist es in unserer Natur angelegt?
Eher kulturell. Man weiss, dass es bis zum Aufkommen der grossen Weltreligionen in verschiedenen Regionen Kannibalismus gegeben hat.
In rituellen Handlungen hat man Tote verspeist, um sich deren Kräfte einzuverleiben. Oder auch um einen besiegten Feind vollends zu entwürdigen und zu vernichten.
Die grossen monotheistischen Weltreligionen drängten diesen rituellen Kannibalismus jedoch zurück. In diesen Religionen besteht die Auffassung, dass jeder Mensch von Gott gewollt ist. Dies entzieht dem Kannibalismus jede Legitimation.
Dennoch schildert der aktuelle Roman von Franzobel die wahre Geschichte von Schiffbrüchigen, die 1816 auf einem Floss trieben und sich gegenseitig aufassen. Genügt es, in eine existenzielle Ausnahmesituation zu geraten, um zum Kannibalen zu werden?
Wenn jemand in eine Situation gerät, in der es nur noch um das nackte Überleben geht, ist man eher bereit sich Legitimations-Strategien zurechtzulegen, um das tief verankerte Kannibalismus-Tabu zu überwinden.
Man legt sich etwas zurecht im Stil von: Der Verstorbene ist schon tot. Er hat aufgrund der Bedingungen nicht überlebt. Der einzige Sinn dieses sinnlosen Todes kann nur darin bestehen, wenigstens mein Leben zu retten.
Wenn es um das nackte Überleben geht, überwindet man das Kannibalismus-Tabu eher.
Es gibt in der Geschichte der Seefahrt viele Beispiele von Seeleuten, die lange Zeit auf dem Ozean trieben, massiv Hunger litten und dennoch nicht zu Kannibalen wurden. Wovon hängt es ab, dass das Kannibalismus-Tabu hält?
Die Menschen sind charakterlich verschieden und bleiben es letztlich auch in Ausnahmesituationen wie auf dem Floss der Medusa.
Bei den einen sitzen die moralischen Skrupel, das Tabu zu brechen, nicht so tief, während andere eine derartige Tat nicht fertigbringen und vorher den eigenen Tod in Kauf nehmen.
Jemand, der in einer existenziellen Notlage Gefühle besser abspalten kann oder auch antisoziale Tendenzen entwickelt, wird sich eher dazu entschliessen können. Auch die unterschiedliche Fähigkeit zur Selbstüberwindung gehört dazu.
Sie betonen das kulturell bedingte Kannibalismus-Tabu, das in Ausnahmesituationen einbrechen kann. Gibt es in uns Menschen auch eine Neigung zum Kannibalismus, die den Tabubruch begünstigt?
Der Kannibalismus ist in unserer Kultur seit jeher ein Thema und schwingt etwa im Sprachgebrauch mit. Denken Sie nur an rhetorische Figuren wie: «Ich habe dich zum Fressen gern».
Wir haben in uns als Menschen die Neigung, dass wir mit dem, was wir sehr begehren, verschmelzen möchten. Hinter dieser Zärtlichkeitsbekundung steckt die Sehnsucht nach einem vorgeburtlichen Zustand, als wir noch im Bauch der Mutter waren.
In einer Ausnahmesituation kommt also etwas Unbewusstes zum Tragen, das dazu beiträgt, dass wir zu Kannibalen werden können?
Ja, zweifelsohne. Aber es muss sich nicht durchsetzen.
Welche Bedeutung messen Sie der Gruppendynamik zu?
Sie ist von zentraler Bedeutung. In der Gruppe sind unterschiedliche Charaktere in derselben Notsituation versammelt. Es kann sein, dass ein anderer, der weniger moralische Skrupel hegt als ich, vorangeht, als erster vom Fleisch der Leiche isst und für mich die Legitimationsarbeit leistet, damit ich es ihm dann gleichtun kann.
Verfügen Menschen in existenziellen Notsituationen überhaupt noch über einen freien Willen?
Im Zusammenhang mit Recht und Unrecht, Schuld und Verantwortung ist der freie Wille ein notwendiges Postulat. Wenn ich mich bei einem Flugzeugabsturz in den Anden überwinde, von meinem toten Mitreisenden zu essen, um selbst zu überleben, dann treffe ich diese Entscheidung.
In einer solchen Notsituation ist das eher eine Frage der Verschiebung des moralischen Koordinatensystems. Anders ist es bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen wie etwa einer schizophrenen Psychose. Es gibt Kranke, die die Wahnidee haben, das normale Essen sei in Wahrheit Menschenfleisch. Solche Patienten kenne ich selbst.
Bei einer anderen kleinen Gruppe spielen kannibalistische Phantasien im Zusammenhang mit einer sexuellen Abweichung eine Rolle. Psychisch kranke Menschen benötigen psychiatrische Hilfe.
Das Gespräch führte Felix Münger.
Sendung: SRF 2 Kultur, BuchZeichen, 25. Juni 2017, 14:06 Uhr