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Trauer um Martin Walser Martin Walser liebte den Widerspruch, der ihn so schmerzte

Martin Walsers Werk ist schon länger von Auflösungserscheinungen durchsetzt. Nun ist der Schriftsteller, einer der Grossen der deutschen Literatur, gestorben.

Der Widerspruch zieht sich als roter Faden durch das Leben von Martin Walser. Die literarische Bühne betritt er 1957 mit «Ehen in Philippsburg». Das erfolgreiche Debüt etabliert die Szenerie aus dem Alltagsleben der Angestellten, der er in vielen Büchern treu bleiben wird.

Die Horns, Halms und Zürns: Sie sind die komisch-tragischen Figuren aus dem bürgerlichen Heldenleben, aus dem er seine Stoffe und seine Sprache gewinnt. Zwischen ihren Ambitionen und einer lastenden Wirklichkeit liegt der Riss, der Walsers Werke bestimmt: ihre Aufstiege und vor allem ihre Abstürze.

Macht, Abhängigkeit, Herrschaft

In Walsers Werken geht es um Macht, Abhängigkeiten und um Herrschaftsverhältnisse. Es umfasst alle Genres: Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Lyrik, Essays und Aufsätze.

Schwarz-weiss Foto eines älteren Herren mit Buch im Sessel
Legende: Kritisch gegenüber der «Draussen-Welt»: Walser, 1987 im Graubünden. Keystone / STR

Seine Tagebücher veröffentlicht Walser schon zu Lebzeiten. Sie erregen Aufsehen und machen den Autor zu einer öffentlichen Instanz. Mit der Novelle «Ein fliehendes Pferd» gelingt ihm sein grösster Erfolg.

Mit der Teilung Deutschlands wechselt er die Seiten

Walser ist Mitglied des Schriftsteller-Treffens «Gruppe 47». Er erhält zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, darunter 1981 der Büchner-Preis. Schon früh engagiert er sich politisch.

Er ist Zuhörer beim Frankfurter Auschwitz-Prozess, votiert für die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler und ist Gegner des Vietnamkriegs.

Zeitweilig sympathisiert er mit der radikalen Linken, bevor er 1988 die Seiten wechselt und offen die Teilung Deutschlands beklagt. Jetzt gilt er als national-konservativ – ein Etikett, das er genauso vehement ablehnt wie die anderen zuvor.

Der Antisemitismus-Vorwurf als Wendepunkt

Eine Rede wird zur Wende seines Lebens: Noch einmal sucht er den Widerspruch, als er 1989 zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche spricht. Die Rede von der «Instrumentalisierung des Holocaust» bringt ihm den Vorwurf des Antisemitismus ein.

Auch Walsers Ruf als Schriftsteller nimmt Schaden. Sein darauffolgender Roman «Tod eines Kritikers» trifft auf scharfe Ablehnung. In der Hauptfigur können viele nur den Kritiker Marcel Reich-Ranicki erkennen, mit dem Walser eine lebenslange Fehde verbindet.

«Einsam bin ich sowieso»

Der Antisemitismus-Vorwurf bleibt an Walser haften, isoliert ihn zunehmend. Das schmerzt Walser, der die Öffentlichkeit sucht und flieht zugleich. Und der trotz allem von ihr geliebt werden will.

«Einsam bin ich sowieso», hat Martin Walser einmal gesagt.
Am Ende schrieb er nur noch «Augenblickstexte» - Sentenzen, Eingebungen, Sottisen. Er veröffentlicht sie Jahr um Jahr in neuer Folge.

Es sind Momente der Auflösung, schmale Texte der Selbstverständigung. Walser war einer der Grossen der deutschsprachigen Literatur, nun hat er sich endgültig verabschiedet. Am 26. Juli 2023 ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

Tagesschau, 28.07.2023, 19:30 Uhr

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