Als Jugendlicher erhielt der St. Galler Autor Christoph Keller die Diagnose SMA, eine fortschreitende Muskelerkrankung. Er wusste, dass er eines Tages im Rollstuhl landen würde. Seine beiden Brüder hatten vor ihm dasselbe Schicksal erlebt.
Als ob das Drama für die Familie Keller damit noch nicht komplett wäre, kam noch ein weiterer Schlag dazu. Der Vater haute ab, weil er sich nicht mit der Tatsache abfinden konnte, dass alle seine Söhne – wie er es nannte – «zu Krüppeln geworden waren».
Gedanken zurechtlegen
In seiner Autobiografie «Der beste Tänzer» arbeitete Christoph Keller 2003 diese einschneidenden Erfahrungen literarisch auf und erzielte mit dem Band ein grosses Echo.
Die eigene Geschichte aufzuschreiben, sei ein schmerzhafter Prozess gewesen, sagt der Autor heute im Rückblick.
Geschockt habe ihn vor allem die Erkenntnis, dass dem eigenen Gedächtnis nicht wirklich zu trauen war: «Auf den vielen Lesungen aus dem Buch wurde mir allmählich klar. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr an das, was eigentlich war, sondern an das, wie ich es für diesen Text zurecht erinnert habe.»
Fremde oder eigne Erinnerungen?
Im Roman «Das Steinauge» führt Christoph Keller nun – mit den Mitteln der Fiktion – das Thema der unzuverlässigen Erinnerung fort.
Hier ist es der Schauspieler Philipp, der zurückschaut. Eine Dokumentarfilmerin will seine Kindheit thematisieren und bittet ihn, aus seinen frühen Jahren zu erzählen.
Diese Zeit ist für ihn mit einer traumatischen Erfahrung verbunden: Philipps Freund, mit dem er regelmässig auf Fossilienjagd gegangen war, stürzte vor seinen Augen in eine Schlucht und starb.
In langen, kunstvollen Wortkaskaden ruft Philipp jene Geschehnisse wieder wach und verstrickt sich immer mehr in Widersprüche und Halbwahrheiten. Zunehmend geraten auch wir beim Lesen ins Zweifeln: Erzählt der Schauspieler da wirklich aus seinem eigenen Leben oder baut er ein anderes zusammen, indem er fremde statt die eigenen Erinnerungen verwendet?
Der Autor lullt uns ein
Christoph Keller ist nicht nur ein sprachgewaltiger Autor, dem starke Bilder und dichte Momente gelingen, er überzeugt auch formal. Indem er mit Tempo und Witz seine Geschichte auf verschiedenen Ebenen vorwärts treibt, lullt er sein Publikum regelrecht ein.
Es gerät in traumähnliche Zustände, die dem Prozess des eigenen Erinnerns sehr nahe kommen. Wie stark dürfen wir uns auf unser Gedächtnis verlassen? Sind wir den Tücken und Gesetzen unseres Hirns hilflos ausgeliefert? Und wie wahr ist letztlich ein Leben, das auf falschen Erinnerungen beruht?
Absprung ins Surreale
Dem Roman sind noch sechs Erzählungen mit Illustrationen – unter dem Titel «Galapagos» – angehängt, die dann endgültig den Absprung ins Verspielt-Surreale machen.
Am Schluss landen wir im «Galapagos» der Zukunft. Jenen Inseln, wo Tierarten und Pflanzen noch zu finden sind, die in unseren Breitengraden längst als Fossilien aus den Felsen gekratzt werden.
So schliesst sich der Kreis wieder zu den jugendlichen Fossilien-Jägern und zum Spiel mit Erinnerungen. Die Regisseurin im Roman, die einen Film zu Philips Jugend drehen will, bringt es mit folgendem Satz auf den Punkt: «So stelle ich mir Erinnerungen vor – als die Fossilien unseres Gedächtnisses, unsere zu Gedanken versteinerten Handlungen».
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 09.07.17, 11:03 Uhr